EuGH-Schlussanträge: Bereitschaftszeit als Arbeit?

Aus Sicht des zuständigen Gutachters am Europäischen Gerichtshof kann Bereitschaftszeit als Arbeitszeit gelten. Vorausgesetzt der Beschäftigte muss schnell einsatzbereit sein und ist häufig im Einsatz.

Erneut musste sich der EuGH mit der Frage auseinandersetzen, ob es sich noch um Bereitschaftszeit handelt, wenn der Arbeitnehmer in Arbeitskleidung zuhause sitzt, um im Ernstfall rechtzeitig seine Arbeit aufnehmen zu können. Zu diesen Vorlagefragen hat der Generalanwalt Giovanni Pitruzzella am EuGH nun Schlussanträge gestellt.

Vorabentscheidungsverfahren

Die Vorabentscheidungsverfahren betreffen einerseits den Rufbereitschaftsdienst eines im Hochgebirge eingesetzten slowenischen Sendetechnikers (6.10.2020, Az. C-344/19). Dieser muss innerhalb einer Stunde am Arbeitsplatz sein können. Er hält sich während dieser Rufbereitschaftszeiten wegen des erschwerten Zugangs und der Entfernung des Arbeitsplatzes von seinem Wohnort in der Nähe des Arbeitsplatzes auf.

Andererseits war ein Feuerwehrmann betroffen (06.10.2020, Az. C-580/19). Er darf seine Bereitschaft zwar außerhalb der Dienststelle verbringen, muss aber innerhalb von 20 Minuten die Grenzen der Stadt, in der er arbeitet, in Arbeitskleidung und mit dem Einsatzfahrzeug erreichen können.

Intensität der Einschränkungen maßgeblich

Ausschlaggebend für die Einschätzung ob Bereitschaft als Arbeits- oder als Ruhezeit eingestuft werden muss, sie die Intensität der Einschränkung. Relevant sei die Weisungsbefugnis des Arbeitgebers, die geforderte Reaktionszeit und andere Indizien. Wichtig sei auch, ob Arbeitnehmer in Bereitschaft tatsächlich mit einem Einsatz rechnen müssen. Häufige Einsätze könnten die Chance, die Freizeit zwecks Erholung planen zu können, fast auf Null reduzieren. Verlangt der Arbeitgeber noch eine kurze Reaktionszeit, beeinträchtige dies die tatsächliche Ruhezeit des Beschäftigten erheblich.

Hinsichtlich des Sendetechnikers vertritt  die Generalanwaltschaft die Ansicht, unter den gegebenen Umständen dürfe die Zeit der Rufbereitschaft eines Arbeitnehmers nicht als "Arbeitszeit" einzustufen sein, wenn dieser an einem Ort, der schwierig zu erreichen sei, arbeite, ohne dass der Arbeitgeber ihm örtliche Einschränkungen auferlege und er bei einem Ruf des Arbeitgebers eine Reaktionszeit von einer Stunde habe. Der Umstand, dass sich der Arbeitnehmer für bestimmte Zeiträume in einer Unterkunft in der Nähe des Ortes seiner Arbeitserbringung (Rundfunk-Sendeanlage) aufhalte, weil die geografische Besonderheit des Ortes die tägliche Rückkehr nach Hause unmöglich mache (oder erschwere), beeinflusse die rechtliche Einstufung der Zeit der Rufbereitschaft nicht.

Reaktionszeit ist entscheidend

Nach Ansicht des Generalanwalts sei die Reaktionszeit auf den Ruf des Arbeitgebers ein entscheidender Faktor. Eine Reaktionszeit von wenigen Minuten, wie etwa im Fall des deutschen Feuerwehrmanns, ermöglicht keine Planung der eigenen Ruhezeit. Eine angemessene Reaktionszeit hingegen ermögliche es, sich während der Rufbereitschaft anderen Tätigkeiten zu widmen, auch wenn sich der Betroffene bewusst ist, dass ein Ruf in den Dienst jederzeit möglich ist.

Zur Reaktionszeit als Indiz hatte der EuGH bereits entschieden, dass der Bereitschaftsdienst eines Feuerwehrmannes, der innerhalb von acht Minuten bereit sein muss, als Arbeitszeit zu sehen ist (EuGH, 21.02.2018, C-518/15).

Insgesamt komme es auf die Gesamtwirkung aller genannten Kriterien an.

Derartige Faktoren einer Gesamtschau könnten z.B. bestehen im Handlungsspielraum des Arbeitnehmers gegenüber dem Ruf des Arbeitgebers, in den Folgen, die im Fall der Verspätung oder des unterlassenen Tätigwerdens bei einem Ruf zum Einsatz vorgesehen seien, in der Notwendigkeit, Funktionskleidung für die Arbeit zu tragen, in der Verfügbarkeit eines Dienstwagens für die Erreichung des Einsatzorts, in der zeitlichen Festlegung und der Dauer der Zeit der Rufbereitschaft sowie in der mutmaßlichen Häufigkeit der Einsätze.

Einsatzfrequenz

Außerdem, so der Generalanwalt, sei bei der Definition von „Arbeitszeit“ auch zu berücksichtigen, ob und inwieweit der Arbeitnehmer während eines Bereitschaftsdiensts mit einer dienstlichen Inanspruchnahme zu rechnen habe. Eine hohe Häufigkeit der Einsätze während der Zeiten der Rufbereitschaft könnte zu einer so umfassenden Einbindung des Arbeitnehmers führen, dass sie seine Möglichkeit, die Freizeit während dieser Zeiten zu planen, fast auf Null reduziere, so dass sie, wenn noch der Umstand einer kurzen Reaktionszeit auf den Ruf des Arbeitgebers hinzukomme, die tatsächliche Ruhezeit des Arbeitnehmers beeinträchtigen könnte.

Die Letztentscheidung obliegt nun den nationalen Gerichten.

Im Fall des deutschen Feuerwehrmannes ist die Entscheidung insbesondere für die Höhe der Vergütung erheblich. Denn das Bundesarbeitsgericht hat bereits 2016 entschieden, (Urteil vom 29. Juni 2016, Az. 5 AZR 716/15) dass für Bereitschaftsdienste der Mindestlohn gezahlt werden muss.

 

Hier finden Sie die beiden Schlussanträge:

Schlussantrag des Generalanwalts Giovanni Pitruzzella (1)

Schlussantrag des Generalanwalts Giovanni Pitruzzella (2)