DAS IST (NICHT) MEIN ZUHAUSE

VALERIA ANSELM IGFH

KEINER redet gerne über Probleme und vor allem nicht darüber, dass es Kinder gibt, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können. Aber ich möchte darüber sprechen. Ich möchte, dass du weißt wie es ist. Ich möchte meine Erfahrungen mit dir teilen. Darum gibt es dieses Buch. VALERIA ANSELM »Ein Buch über Abschiede, über Betreuung und Liebe, WLAN, Tanzparties und Tabuthemen, Netze und Erwachsenwerden. Darüber, was als normal gilt und was nicht und was Kinder eigentlich brauchen. Valerias Worte sind bunt - persönlich, politisch, poetisch, immer ehrlich. Sie haben mich zum Weinen gebracht, zum Lachen und zum Lernen. Valeria Anselm füllt mit diesem Buch eine Leerstelle und ich wünsche allen Leser*innen eine gute Reise durch ihre Welt der Jugendhilfe.« NISHA TOUSSAINT-TEACHOUT

8 A LETTER TO YOU Hey du, vielleicht bist du gerade neu in eine Wohngruppe eingezogen oder wohnst schon länger dort. Vielleicht bist du ein*e Betreuer*in oder einfach ein*e Interessierte*r. Wie auch immer du zu diesem Buch kamst, es ist kein Ratgeber und kein Roman, in diesem Buch geht es um eine Reise. Meine Reise durch die Jugendhilfe, durch meine Jugend und durch meine Gedanken und Erinnerungen. Weißt du eigentlich wie schwer es ist ein Buch zu schreiben? Bevor ich dir also meine Geschichte erzähle, möchte ich erwähnen wie es zu diesem Buch kam. Es war ein Sonntagabend und ich lag mit Fieber auf dem Sofa, während sich die Betreuerinnen und meine Mitbewohnerinnen über die neuen Gruppenregeln unterhielten. Außerdem sprachen sie über die zwei Mädchen, die am Wochenende einziehen würden. Die Gedanken in meinem Kopf fingen an sich zu drehen und mir wurde übel, ich bekam schlecht Luft. „Schon wieder zwei Neue, es sind doch erst zwei eingezogen.“ Die letzten Wochen waren hart. Innerhalb eines Monats waren fünf von acht Mädchen ausgezogen. Und wie es nun mal so ist, ein teurer, stationärer Jugendhilfeplatz bleibt nicht lange unbesetzt. Wenn jemand auszieht, zieht jemand Neues ein. Auf dem Papier klingt es ganz einfach. In der Praxis ist es nicht so leicht. Vor allem wenn man selbst dort wohnt und jahrelang mitansehen muss, wie Menschen kommen und gehen. Und es ist egal, wie lange man dort wohnt, es wird nicht einfacher mit der Zeit. Zumindest für mich nicht. Nun lag ich da also und machte mir Gedanken darüber, wie es wohl aussehen würde, wenn jetzt zwei neue Mädchen einziehen. Ich machte mir viele Gedanken. Irgendwann war ich so verzweifelt, dass ich entschied, ausziehen zu wollen. Weil ich einfach genervt und überfordert war. Dieses ganze WG-Leben strengte mich sehr an. Und ich hatte das Gefühl mit niemandem wirklich darüber sprechen zu können. Es gab niemanden, der mich verstehen konnte.

9 Es erschien mir, als sei dieses ganze Jugendhilfesystem ein Mysterium. Die Menschen, die das System studierten, lernten dieses nur in irgendwelchen Büchern und Vorlesungen kennen. Später, wenn sie bereit waren darin zu arbeiten, basierte ihr Wissen nur auf dem Gelernten und ihr Handlungsspielraum ist an die Gesetze gebunden. Die Menschen, die mit der Jugendhilfe nichts zu tun haben, wissen oft gar nicht, dass sie existiert und können sich überhaupt nicht vorstellen, wie es dort zugeht. Und die Kinder und Jugendlichen reden viel zu selten über ihre Erfahrungen. Ich wollte aber mit jemandem darüber reden, ich wollte jemanden finden, der mich versteht. Doch die Suche war nicht so einfach und als ich nach Büchern oder anderer Literatur dazu suchte, fand ich nur jede Menge Fachbücher und Horrorgeschichten von Heimkindern aus früheren Zeiten. Es scheint, als wäre es verboten, darüber zu reden oder als gäbe es nichts zu erzählen. Ein Tabuthema also. Die Gesellschaft möchte nicht darüber reden. Keiner redet gerne über Probleme und vor allem nicht darüber, dass es Kinder gibt, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können. Aber ich möchte darüber sprechen. Ich möchte, dass du weißt wie es ist. Ich möchte meine Erfahrungen mit dir teilen. Darum gibt es dieses Buch. Alles was ich wollte, war ein Zuhause. Alles was ich bekam, war ein Platz in einer Wohngruppe, in der Menschen ein- und ausgehen, wie es ihnen gefällt.

92 ANLIEGEN UND BEDARFE VON JUNGEN MENSCHEN SICHTBAR MACHEN! Die IGfH (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen) versteht sich als Lobby im Dienste des Wohls und der Rechte von jungen Menschen, die außerhalb der Herkunftsfamilie leben. Sie vertritt in diesem Rahmen die Interessen von pädagogischen Fachkräften, von Institutionen und von jungen Menschen. Die Einschätzungen der Adressat*innen der Erziehungshilfen haben innerhalb der IGfH einen hohen Stellenwert. Dies wurde zum Beispiel im Rahmen des Projektes „Zukunftsforum Heimerziehung“ besonders deutlich. Hier gab es Beteiligungs-Werkstätten u.a. mit Jugendlichen und Care Leaver*innen, die in Wohngruppen oder Pflegeverhältnissen (zeitweilig) gelebt haben. So konnten ihre Einschätzungen und Bedarfe zusammengetragen und diskutiert werden. Ein weiteres Format des Projektes war ein Hearing im deutschen Bundestag, dies ermöglichte den direkten Austausch zwischen jungen Menschen, Eltern und Politiker*innen über die Erziehungshilfen in Deutschland, insbesondere zu den im Rahmen des Projektes aufgedeckten und angesprochenen Bedarfen von jungen Menschen. GOOD TO KNOW / INFOS FÜR DICH

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