Betreuungsrecht Betreuungspraxis

Der ideale Begleiter für Fortbildung und Praxis Betreuungsrecht Betreuungspraxis Böhm · Friedrich · Spanl Systematische Erläuterung des Betreuungsrechts und der Grundzüge des Sozialrechts Mit kostenlosem Download der Arbeitshilfen DNWXDOLVLHUWH $XʴDJH

Standardwerk für die betreuungsrechtliche Praxis 'DV EHZ¦KUWH 1DFKVFKODJHZHUN I¾U EHUXʴLFKH %HWUHXHU %HWUHXXQJVEHK¸UGHQ E]Z %HWUHX XQJVVWHOOHQ %HWUHXXQJVYHUHLQH 5LFKWHU XQG 5HFKWVSʴHJHU DQ GHQ %HWUHXXQJVJHULFKWHQ VRZLH 6WXGLHUHQGH 6DFKNXQGHQDFKZHLV %DFKHORU OHLVWHW ZHUWYROOH +LOIHVWHOOXQJ EHL GHU W¦JOLFKHQ $UEHLW 1HEHQ GHU SURIXQGHQ (UO¦XWHUXQJ GHV %HWUHXXQJVUHFKWV ZHUGHQ *UXQG ]¾JH GHV 6R]LDOUHFKWV ȡ DEJHKDQGHOW QDFK /HEHQVVDFKYHUKDOWHQ ȡ GDUJHVWHOOW Betreuungsrecht *UXQGV¦W]H GHV %HWUHXXQJVUHFKWV %HWUHXXQJVDQRUGQXQJ XQG %HWUHXHUEHVWHOOXQJ )¾K UXQJ GHU %HWUHXXQJ 3ʴLFKWHQ GHV %HWUHXHUV †QGHUXQJHQ XQG %HHQGLJXQJ GHU %HWUHXXQJ 9RUVRUJH XQG $OWHUQDWLYHQ 8QWHUEULQJXQJVVDFKHQ 9HUIDKUHQ YRU GHP %HWUHXXQJVJHULFKW 5HFKWVEHKHOIH :RKQUDXP GHV %HWUHXWHQ XQG +HLPDQJHOHJHQKHLWHQ 9HUP¸JHQVYHUZDO WXQJ XQG 9HUP¸JHQVVRUJH EHWUHXXQJVJHULFKWOLFKH *HQHKPLJXQJ .RQWRVFKXW] ȡ 9HU EUDXFKHULQVROYHQ] %HVRQGHUKHLWHQ EHL $XVODQGVEH]XJ 9HUIDKUHQVUHJHOXQJHQ LP %W2* +DIWXQJ GHV %HWUHXHUV 9HUJ¾WXQJ XQG $XIZDQGVHQWVFK¦GLJXQJ *HULFKWOLFKH .RVWHQ Sozialrecht žEHUVLFKW ]X GHQ UHFKWOLFKHQ *UXQGODJHQ +LOIHQ ]XP /HEHQVXQWHUKDOW :RKQHQ XQG 8QWHUNXQIW *HVXQGKHLW XQG %HKLQGHUXQJ 3ʴHJH EHVRQGHUH 6FK¦GLJXQJVWDWEHVW¦QGH $OOWDJ XQG VR]LDOH 7HLOKDEH )DPLOLH PLW .LQGHUQ 6FKXOH XQG %LOGXQJ $UEHLW XQG %HUXI VWHXHUOLFKH $VSHNWH +LOIHQ LP $OWHU UXQG XP GHQ 7RGHVIDOO 5HFKWVGXUFKVHW]XQJ Horst Böhm, /DQGJHULFKWVSU¦VLGHQW D ' XQG 'LSORP 5HFKWVSʴHJHU Reinhold Spanl, +RFK VFKXOOHKUHU D ' VLQG HUIDKUHQH /HKUEHDXIWUDJWH 5HIHUHQWHQ XQG )DFKEXFKDXWRUHQ VLH VLQG VHLW YLHOHQ -DKUHQ PLW GHP %HWUHXXQJVUHFKW XQG GHQ GDPLW YHUEXQGHQHQ 5HFKWV IUDJHQ EHIDVVW Johannes Friedrich LVW 5LFKWHU DP 6R]LDOJHULFKW 5HJHQVEXUJ XQG /HKUEHDXIWUDJWHU GHU 7HFKQLVFKHQ +RFKVFKXOH 'HJJHQGRUI LP 6WXGLHQJDQJ Ȩ=HUWLʳ]LHUWHU %HUXIVEHWUHXHUȦ Mitwirkende Autoren: (UQVW 5LHGHO 'LSORP 5HFKWVSʴHJHU D ' .ULVWLQ %DXHU 5LFKWHULQ DP 6R]LDOJHULFKW $QWMH %HFNKRYH 5LFKWHULQ DP 6R]LDOJHULFKW (YHO\Q 6WDGOHU 5LFKWHULQ DP 6R]LDOJHULFKW $VWULG 9LQFHQF 3U¦VLGHQWLQ GHV 6R]LDOJHULFKWV 5HJHQVEXUJ 0DOELQH )ULHGULFK 6WHXHUDPWIUDX www.WALHALLA.de :,66(1 )ž5 ',( 35$;,6 ,6%1 ȵ >'@ • $.78(// • 35$;,6*(5(&+7 • 9(567†1'/,&+

Vorwort Personen, die im sozialen Bereich ihre Arbeit erfu¨llen oder eine Betreuung u¨bernommen haben, sind mit zum Teil schwierigen juristischen Zusammenha¨ngen konfrontiert. Die Anwendung des Rechts ist nicht allein dem Juristen vorbehalten. Vielmehr beeinflusst und vera¨ndert auch der soziale Rechtsanwender Lebenssituationen, indem er Sachverhalte einer konkreten Lo¨sung zufu¨hrt. Hierzu beno¨tigt er praxisnahe rechtsu¨bergreifende Fachliteratur. Das „Handbuch fu¨r Betreuer“erfu¨llt diese Anforderungen: Fu¨r berufliche Betreuer, Angeho¨rige beratender Berufe, interessierte Laien sowie ehrenamtliche Betreuer ist es die zuverla¨ssige Arbeitshilfe in allen Betreuungsfragen. Es dient als P umfassende Einfu¨hrung in die Betreuungsarbeit, P ta¨gliches Arbeitsmittel und P immer aktuelles Nachschlagewerk fu¨r Einzelprobleme. Das setzt voraus, dass sowohl das Betreuungsrecht als auch das Sozialrecht kompakt und praxisnah dargestellt werden. Denn der Betreuer ist auf beide ineinandergreifenden Rechtsgebiete angewiesen, um seine Aufgabe sorgfa¨ltig und vertrauensvoll gegenu¨ber dem Betreuten zu erfu¨llen. U¨ber das Basiswissen hinaus befasst sich das Handbuch immer auch mit aktuellen Fragestellungen. A¨nderungen im Gesetz und der Rechtsprechung werden zeitnah verarbeitet. Erga¨nzend abgedruckte Praxishinweise, Formalien und Beschlu¨sse aus der gerichtlichen Praxis verschaffen einen Eindruck davon, wie das Verfahren in der Praxis tatsa¨chlich abla¨uft. Arbeitshilfen wie Checklisten, Tabellen, Grafiken, U¨ bersichten und Musterschreiben erleichtern die Arbeit zusa¨tzlich. Der praktische Nutzen steht im Mittelpunkt dieses Handbuchs. Der aus erfahrenen Experten bestehende Autorenkreis sorgt fu¨r interessante Beitra¨ge sowie fu¨r die Aktualita¨t von Rechtsprechung und Vorschriften. Regelma¨ßige Aktualisierungen halten das„Handbuch fu¨r Betreuer“ stets auf dem Laufenden. Wir wu¨nschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Betreuungsarbeit! Gerne nimmt das Autorenteam Hinweise und Anregungen entgegen. Autorinnen, Autoren und Verlag 1 Aktualisierung September 2024 HB Betreuer www.WALHALLA.de Vorwort www.walhalla.de 5

1. Grundsa¨tze des Betreuungsrechts 1.1 Vormundschaft, Entmu¨ndigung und Gebrechlichkeitspflegschaft Bis 1991 wurden Menschen entmu¨ndigt, wobei die Gru¨nde dafu¨r unterschiedlich waren. Geisteskrankheit, Geistesschwa¨che, Trunk- oder Rauschgiftsucht sowie Verschwendungssucht wurden der Entscheidung zugrunde gelegt. Folge der Entmu¨ndigung war die im Gesetz geregelte Gescha¨ftsunfa¨higkeit oder beschra¨nkte Gescha¨ftsfa¨higkeit; dem Entmu¨ndigten wurde ein Vormund bestellt. Ohne Entmu¨ndigungsverfahren konnte fu¨r einen geistig wie ko¨rperlich „Gebrechlichen“ ein Pfleger fu¨r bestimmte Aufgabenbereiche bestellt werden (sog. Gebrechlichkeitspflegschaft); die Pflegschaft hatte keinen Einfluss auf die Gescha¨ftsfa¨higkeit. Dieses auf Repression, Entrechtung und nicht auf Hilfe ausgerichtete Recht stand im eklatanten Widerspruch zu einer neuen Gesellschaft und einem Staat, der sich auch die Fu¨rsorge fu¨r die Schwachen zur Aufgabe gemacht hat. 1.2 Das Betreuungsgesetz als Kontrastprogramm zum alten Recht Am 1.1.1992 ist das Betreuungsgesetz (BtG) in Kraft getreten. Folgende wesentlichen Neuerungen wurden verankert: O Die Entmu¨ndigung wurde abgeschafft. O Eine neue zeitgerechte Terminologie wurde eingefu¨hrt (z. B. „psychische Krankheit“ statt „geistiges Gebrechen“). O Vormundschaft und Pflegschaft u¨ber Vollja¨hrige wurden durch das neue Rechtsinstitut der „Betreuung“ ersetzt. O Die Bestellung eines Betreuers schra¨nkt die Gescha¨fts- und Einwilligungsfa¨higkeit des Betreuten nicht automatisch ein. O Nur soweit es erforderlich ist, kann das Gericht die Gescha¨ftsfa¨higkeit durch einen „Einwilligungsvorbehalt“ einschra¨nken. O An die Stelle anonymer Verwaltung (vor allem Beho¨rden- und Vereinsbetreuungen) soll eine perso¨nliche Betreuung treten. O Der Betreuer soll Wu¨nschen des Betreuten grundsa¨tzlich entsprechen. O Die Personensorge wird durch Genehmigungsvorbehalte bei Heilbehandlungen, Unterbringung, unterbringungsa¨hnlichen Maßnahmen und Wohnungsauflo¨sung gesta¨rkt. O Die Bestellung eines Betreuers setzt die perso¨nliche Anho¨rung, die Verschaffung eines unmittelbaren Eindrucks des Betroffenen und eine genaue Sachaufkla¨rung voraus. O U¨ ber Betreuerbestellungen muss spa¨testens nach fu¨nf (heute: sieben bzw. zwei) Jahren neu entschieden werden. O In Verfahren, die eine Betreuung betreffen, ist der Betroffene ohne Ru¨cksicht auf seine Gescha¨ftsfa¨higkeit verfahrensfa¨hig. O Durch Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfu¨gungen werden eigenverantwortliche und vorausschauende Regelungen gefo¨rdert. Die bisherige Bilanz des Betreuungsrechts kann sich durchaus sehen lassen, wobei selbstversta¨ndlich nicht jedes gesetzgeberische Ziel erreicht werden konnte. Studien und Forschungsvorhaben zur Evaluation, Seminare, Informations- sowie Fort- und Ausbildungsveranstaltungen, die Herausgabe einer speziellen Fachzeitschrift (BtPrax) und die Gru¨ndung u¨bero¨rtlicher Arbeitsgemeinschaften stehen fu¨r eine Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben und eine stetige Weiterentwicklung. Zur Mitarbeit sind alle Privatpersonen, Vereine und Beho¨rden aufgerufen, die am Betreuungsverfahren beteiligt oder davon betroffen sind. A1 Grundsa¨tze und Geschichte des Betreuungsrechts A1.2 HB Betreuer, Bo¨ hm Aktualisierung Oktober 2024 www.WALHALLA.de A 1 2 3 22 www.walhalla.de

Die folgende U¨ bersicht zeigt die Vielzahl der beteiligten Protagonisten: Betroffene, Betreute Betreuungsgericht, Landgericht, BGH, BVerfG Einrichtungen, (ambulante) Pflege, Krankenhäuser, Sozialdienste Betreuungsverein Richter, Rechtspfleger, Geschäftsstelle, Bezirksrevisor Krankenversicherungen, Jobcenter, Rentenversicherungen Sachverständige, behandelnde Ärzte Betreuungsbehörde, Stammbehörde, (über-)örtliche Arbeitsgemeinschaften Gesundheitsamt, Polizei, Sicherheitsbehörden Verfahrenspfleger, Verfahrensbevollmächtigte Betreuer, Vorsorgebevollmächtigte Erfolge im Interesse der Betreuten lassen sich nur durch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aller, die Verantwortung tragen, erreichen. Hinweis: Wer sich fu¨r die U¨ bernahme einer ehrenamtlichen Betreuung interessiert, sollte sich nicht durch eine zum Teil pessimistische Berichterstattung in den Medien abschrecken lassen. Mit einer ehrenamtlichen Ta¨tigkeit ko¨nnen dauerhafte Erfolge erzielt und es kann bewiesen werden, dass soziales Engagement wichtiger ist als viele Worte. 2. Vera¨nderungen des Betreuungsrechts Das Betreuungsrecht war niemals statisch. Der Gesetzgeber und die Rechtsprechung des BVerfG bzw. des BGH haben dem Betreuungsrecht immer wieder neue Impulse gegeben, sodass wir uns heute mit einem modernen und aktualisierten Rechtsgebiet bescha¨ftigen. 2.1 Die wichtigsten Betreuungsrechtsa¨nderungsgesetze Mit dem Ersten Gesetz zur A¨nderung des Betreuungsrechts (1. BtA¨ndG) vom 25.6.1998, das zum 1.1.1999 in Kraft getreten ist, wurden insbesondere die Vergu¨tungsvorschriften und der Umfang von Vorsorgevollmachten gea¨ndert. Grundsa¨tze und Geschichte des Betreuungsrechts A1 A1.3 Aktualisierung Oktober 2024 HB Betreuer, Bo¨ hm www.WALHALLA.de A 4 5 6 7 www.walhalla.de 23

Weitere Reformen brachte das Zweite Gesetz zur A¨nderung des Betreuungsrechts (2. BtA¨ndG) vom 21.4.2005 mit dem Inkrafttreten zum 1.7.2005. Neben Verfahrensvereinfachungen wurden erneut die Vergu¨tungs- und Auslagenerstattungsregelungen fu¨r Berufsbetreuer gea¨ndert; es wurde das sog. Pauschalsystem eingefu¨hrt. Außerdem wurden Beratungs- und Beurkundungsregelungen zur Vorsorgevollmacht neu geschaffen. Am 1.9.2009 ist das Dritte Gesetz zur A¨nderung des Betreuungsrechts in Kraft getreten (3. BtA¨ndG). In den §§ 1901a, 1901b und 1904 BGB (jeweils a. F.) wurden die Patientenverfu¨gung, das Gespra¨ch zur Feststellung des Patientenwillens und die Genehmigungspflicht bei der Einwilligung, Nichteinwilligung oder dem Widerruf der Einwilligung in bestimmte schwerwiegende a¨rztliche Maßnahmen geregelt. Erga¨nzend dazu wurden die dazugeho¨rigen Verfahrensvorschriften in den §§ 287 Abs. 3, 298 FamFG gea¨ndert. Durch das Vormundschafts- und Betreuungsrechtsa¨nderungsgesetz (BGBl. I S. 1306), in Kraft seit 5.7.2011, wurde in § 1840 Abs. 1 BGB (a. F.) die Regelung eingefu¨gt, dass der Betreuer im ja¨hrlichen Bericht Angaben zu den perso¨nlichen Kontakten zum Betreuten zu machen hat. Ferner hat das Betreuungsgericht die Einhaltung der erforderlichen Kontakte zu beaufsichtigen, § 1837 Abs. 2 Satz 2 BGB (a. F.). Die Vorschriften der §§ 1837 und 1840 BGB finden gema¨ß § 1908i Abs. 1 Satz 1 BGB (jeweils a. F.) auch auf die Betreuung sinngema¨ße Anwendung. Zudem kann der Betreuer aus dem Amt entlassen werden, wenn er den erforderlichen perso¨nlichen Kontakt zum Betreuten nicht gehalten hat, § 1908b Abs. 1 Satz 3 BGB (a. F.). Eine bestimmte Anzahl perso¨nlicher Kontakte wurde im Gesetz nicht festgelegt. Mit dem „Gesetz zur Regelung der betreuungsgerichtlichen Einwilligung in eine a¨rztliche Zwangsmaßnahme“vom 18.2.2013, in Kraft getreten am 26.2.2013 (BT-Drucks. 17/12086 und 17/11513), wurde eine Lu¨cke geschlossen, die durch eine Entscheidung des BGH vom 20.6.2012 entstanden war. Der Gesetzgeber versuchte damit, eine verfassungskonforme gesetzliche Grundlage fu¨r eine a¨rztliche Zwangsbehandlung zu schaffen. Im Zuge der Evaluation des 2. BtA¨ndG wurde das „Gesetz zur Sta¨rkung der Funktionen der Betreuungsbeho¨rden“vom 28.8.2013 (BT-Drucks. 17/13419) verabschiedet. Es ist am 1.7.2014 in Kraft getreten. Ziel des sog. Betreuungsbeho¨rdensta¨rkungsgesetzes war es, den Erforderlichkeitsgrundsatz sta¨rker zur Geltung zu bringen. Wieder einmal sollten Betreuungen vermieden werden und zwar diesmal durch eine intensivere Nutzung „anderer Hilfen“. Besser in Stellung gebracht wurde die Betreuungsbeho¨rde, die sich versta¨rkt durch umfassende Information und Beratung im Allgemeinen sowie durch Beratungsangebote, qualifizierte Berichte und den obligatorischen Einsatz von Fachkra¨ften in das Betreuungsverfahren einbringen sollte. Das Aufzeigen und Vermitteln anderer Hilfen durch die Betreuungsbeho¨rde sollte vermeidbare Betreuungen verhindern (siehe dazu A 2, Rn. 29). Das Potenzial geeigneter anderer Hilfen, die bisher nicht genutzt wurden, war u¨berschaubar. Zusa¨tzlich ging der Gesetzgeber davon aus, dass seine Wohltaten zum Nulltarif erreicht werden ko¨nnten. Bereits damals stellte sich die Frage, wie ohne Mehraufwand mehr Qualita¨t (Fachkra¨fte, qualifizierte Berichte, Vorfeldarbeit) generiert und noch mehr Pflichtaufgaben erledigt werden ko¨nnen. Das Ziel, die Justiz zu entlasten und Betreuungen zu vermeiden, wurde verfehlt. Der Bundestag hat am 22.6.2017 das „Gesetz zur A¨nderung der materiellen Zula¨ssigkeitsvoraussetzungen von a¨rztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Sta¨rkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten“ (BT-Drucks. 18/11240 und 18/11617) beschlossen. Der Gesetzgeber folgte damit einer Vorgabe des BVerfG und regelt unter anderem Zwangsbehandlungen ohne geschlossene Unterbringung wa¨hrend eines stationa¨ren Aufenthalts im Krankenhaus, die zwangsweise Verbringung dorthin, die Notwendigkeit der positiven Feststellung und Beru¨cksichtigung des Willens des Betroffenen gema¨ß § 1901a BGB (a. F.; Patientenverfu¨gung, Behandlungswunsch, mutmaßlicher Wille), die Pflicht des Betreuers, den Betreuten auf eine Patientenverfu¨gung hinzuweisen und ihn bei der Errichtung einer solchen zu unterstu¨tzen. Zwangsbehandlung und geschlossene Unterbringung werden entkoppelt und eigensta¨ndigen Normen zugefu¨hrt. A1 Grundsa¨tze und Geschichte des Betreuungsrechts A1.4 HB Betreuer, Bo¨ hm Aktualisierung Oktober 2024 www.WALHALLA.de A 8 9 10 11 12 13 24 www.walhalla.de

2.2 Das FGG-Reformgesetz Das FGG-Reformgesetz hat das FGG abgeschafft und durch das „Gesetz u¨ber das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG)“ ersetzt. Es trat am 1.9.2009 in Kraft und sollte dem modernen materiellen Betreuungsrecht ein gleichwertiges Verfahrensrecht zur Seite stellen. Abgeschafft wurde der Begriff „Vormundschaftsgericht“, der von vielen zu Recht mit Entmu¨ndigung und umfassendem Verlust der perso¨nlichen Rechte gleichgesetzt wurde. Die zusta¨ndige Abteilung beim Amtsgericht ist das Betreuungsgericht und die dort ta¨tigen Richter treten als Betreuungsrichter auf. Auch bei den Rechtsmitteln kam es zu gravierenden Einschnitten. Anfechtbar mit der Beschwerde sind nur noch Endentscheidungen und solche Entscheidungen, die das Gesetz ausdru¨cklich der sofortigen Beschwerde unterwirft. Gegen die Beschwerdeentscheidung der Landgerichte gibt es nunmehr nur noch die Rechtsbeschwerde beim BGH. Das gesamte Verfahrensrecht wurde zudem u¨bersichtlicher gestaltet, sodass der Zugang zu der schwierigen Materie des Verfahrensrechts erleichtert wurde. 2.3 VN-Behindertenrechtskonvention (VN-BRK) Ein vo¨llig neues Regelwerk stellt das U¨bereinkommen u¨ber die Rechte von Menschen mit Behinderungen dar. Dieser vo¨lkerrechtliche Vertrag ist am 26.3.2009 in Kraft getreten und entfaltet zunehmend seine Wirkung im deutschen Rechtsleben. Dem Deutschen Institut fu¨r Menschenrechte wurde entsprechend Art. 33 Abs. 2 VN-BRK die Aufgabe einer sog. Monitoring-Stelle fu¨r „die Fo¨rderung, den Schutz und die U¨berwachung der Durchfu¨hrung dieses U¨bereinkommens“ u¨bertragen. Vielfa¨ltige Infos sind unter www.institutfuer-menschenrechte.de/das-institut/abteilungen/monitoring-stelle-un-behindertenrechtskonvention zu finden. Daneben gibt es die staatliche Anlaufstelle (Focal Point), die staatliche Koordinierungsstelle, den Inklusionsbeirat und die Fachausschu¨sse (vgl. dazu die interessanten Ausfu¨hrungen des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, zu finden unter: www.behindertenbeauftragter.de/DE/AS/rechtliches/un-brk/un-brk-node.html). Es muss ferner gema¨ß Art. 35 VN-BRK einem internationalen Ausschuss u¨ber die Umsetzung berichtet werden. Der Erste Staatenbericht vom 3.8.2011 zeigt die vielfa¨ltigen Umsetzungsversuche auf (vgl. www.institut-fuer-menschenrechte.de). Zum Staatenberichtsverfahren informiert umfassend auch die Monitoring-Stelle UN-BRK (siehe Rn. 16) unter: www.institut-fuermenschenrechte.de/das-institut/abteilungen/monitoring-stelle-un-behindertenrechtskonvention/ staatenberichtsverfahren Einzelpersonen oder Gruppen ko¨nnen sich nach Ausscho¨pfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe mit einer Individualbeschwerde an den VN-Ausschuss fu¨r die Rechte behinderter Menschen wenden (Art. 1 Fakultativprotokoll). Sie mu¨ssen vortragen ko¨nnen, „Opfer einer Verletzung des U¨bereinkommens durch den betreffenden Vertragsstaat“ zu sein. Der Kernsatz der VN-BRK findet sich in Art. 12 Abs. 2, wonach die„Vertragsstaaten anerkennen, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfa¨higkeit genießen.“ Dazu geho¨rt auch der ungehinderte Zugang zur Justiz gema¨ß Art. 13 VN-BRK, der sich nicht auf Rampen fu¨r Rollstuhlfahrer beschra¨nken darf, sondern zu Regelungen fu¨hren muss, die z. B. eine effektive Vertretung vor Gericht gewa¨hrleisten (Verfahrenspfleger, Pflichtverteidiger etc.) oder eine behindertengerechte Kommunikation (Art. 13 Abs. 2 VN-BRK). Wichtig ist auch der Schutz vor rechtswidriger oder willku¨rlicher Freiheitsentziehung und vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 14 und 15 VN-BRK. Freiheitsentziehende Maßnahmen wie Fixieren, Bettgitter oder Bauchgurt sind auch an diesen Maßsta¨ben zu messen. Behinderteneinrichtungen mu¨ssen gema¨ß Art. 16 Abs. 3 VN-BRK„wirksam von unabha¨ngigen Beho¨rden u¨berwacht werden“. Diesen neuen Anforderungen mu¨ssen Betreuungsbeho¨rden, Betreuungsrichter und alle im Betreuungsnetzwerk eingebundenen Institutionen und Funktionstra¨ger gerecht werden. Grundsa¨tze und Geschichte des Betreuungsrechts A1 A1.5 Aktualisierung Oktober 2024 HB Betreuer, Bo¨ hm www.WALHALLA.de A 14 15 16 17 18 19 20 21 www.walhalla.de 25

Deswegen betont auch das BVerfG, dass die VN-BRK Gesetzeskraft hat und als „Auslegungshilfe fu¨r die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann“ (BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 – 2 BvR 882/09). Der Maßstab der VN-BRK kann hinter bereits bestehenden Rechten von Menschen mit Behinderung zuru¨ckbleiben. In Deutschland gelten ja bereits sehr fortschrittliche Gesetze fu¨r Menschen mit Behinderungen, sodass Art. 4 Abs. 4 Satz 2 VN-BRK mit dem Hinweis relevant werden kann, dass die „in einem Vertragsstaat durch Gesetze, U¨bereinkommen, Verordnungen oder durch Gewohnheitsrecht anerkannten oder bestehenden Menschenrechte und Grundfreiheiten“nicht unter dem Vorwand beschra¨nkt oder außer Kraft gesetzt werden du¨rfen, „dass dieses U¨bereinkommen derartige Rechte oder Freiheiten nicht oder nur in einem geringeren Ausmaß anerkenne“. 2.4 Gesetz zur Reform des Vormundschaftsrechts- und Betreuungsrechts 2.4.1 Das Gesetzgebungsverfahren Die umfassendste Reform des Betreuungsrechts hat uns das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts gebracht. Das BMJV hat zuna¨chst eine umfangreiche Evaluation des Betreuungsrechts mit dem Forschungsvorhaben „Qualita¨t in der rechtlichen Betreuung“ angestoßen. Das beauftragte Institut fu¨r Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) hat 2017 einen dreiba¨ndigen Abschlussbericht vorgelegt. Das lesenswerte ISG-Gutachten ist unter www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/Fachpublikationen/Forschungsbericht_Qualitaet_rechtliche_Betreuung.html zu finden. Darauf aufbauend wurde ein mehrja¨hriges Gesetzgebungsverfahren durchgefu¨hrt, das mit einer umfassenden Anho¨rung vieler Verba¨nde und Sachversta¨ndiger einherging. Zahlreiche, z. T. sehr interessante Stellungnahmen der Verba¨nde finden sich auf der Homepage des BMJV unter www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Reform_Betreuungsrecht_Vormundschaft.html. Das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4.5.2021 hat Bundestag und Bundesrat passiert (BT-Drucks. 19/27287) und wird am 1.1.2023 in Kraft treten. Die Begru¨ndung finden Sie unter der BT-Drucks. 19/24445 (https://dserver.bundestag.de/btd/ 19/244/1924445.pdf). 2.4.2 Was bringt die Reform? Als pra¨gnante U¨berschriften zur Reform bzw. als roter Faden, der durch zahllose Einzelregelungen fu¨hrt, ko¨nnen das „Gebot gro¨ßtmo¨glicher Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen“, die Sta¨rkung des Erforderlichkeitsgrundsatzes und generell eine Steigerung der Qualita¨t der Betreuung und der Auswahl und Kontrolle der Betreuer benannt werden. Ferner geht es um eine Modernisierung der Vorschriften zur Vermo¨genssorge, den Vorrang sozialrechtlicher Hilfen vor rechtlicher Betreuung und das Unterstu¨tzen vor Vertreten. Beispiele fu¨r neue Einzelregelungen: O BtOG – Betreuungsorganisationsgesetz Ersatz fu¨r das BtBG und Fokussierung der „maßgeblichen o¨ffentlich-rechtlich gepra¨gten Vorschriften“; Regelungen fu¨r Betreuungsbeho¨rden, Stammbeho¨rde, Betreuungsvereine und rechtliche Betreuer O Einfu¨hrung der Stammbeho¨rde zur Verwaltung der Berufsbetreuer O Registrierung von Berufsbetreuern (Eignung, Zuverla¨ssigkeit, Sachkunde, Berufshaftpflichtversicherung, §§ 23 bis 30 BtOG, BtRegVO) O Neues Vormu¨nder- und Betreuervergu¨tungsgesetz – VBVG (2023) O Verschiebung der Vorschriften zur Vermo¨genssorge ins Betreuungsrecht O Medizinische Voraussetzungen werden neu umschrieben O Aufgabenbereich „Alle Angelegenheiten“ wird abgeschafft O Aufenthaltsbestimmungsrecht genu¨gt nicht mehr fu¨r die Genehmigung von Unterbringungssachen A1 Grundsa¨tze und Geschichte des Betreuungsrechts A1.6 HB Betreuer, Bo¨ hm Aktualisierung Oktober 2024 www.WALHALLA.de A 22 23 24 25 26 www.walhalla.de

O Freiheitsentziehende Maßnahmen im ha¨uslichen Bereich nur mit entsprechendem Aufgabenbereich O Bestimmung des gewo¨hnlichen Aufenthalts im Ausland muss ausdru¨cklich als Aufgabenbereich angeordnet werden O Generelle Erweiterung der ausdru¨cklich im Beschluss zu nennenden Aufgaben (Unterbringungssachen, Umgang des Betreuten, Bestimmung des gewo¨hnlichen Aufenthalts im Ausland, Telekommunikation, Post, § 1815 Abs. 2 und 3 BGB) O Aufgabenkreis und Aufgabenbereich werden pra¨zise und verbindlich definiert O Bestimmung des Umgangs des Betreuten mit gerichtlicher Entscheidungsmo¨glichkeit O Unterstu¨tzung statt Eingriff, unterstu¨tzende Entscheidungsfindung, Vertretungsrecht statt Vertretungspflicht, §§ 1821 Abs. 1 Satz 2, 1823 BGB O Information der Angeho¨rigen durch den Betreuer, § 1822 BGB O A¨nderungen bei der internationalen Zusta¨ndigkeit, Art. 24 EGBGB O Neue gesetzliche Vertretung: gegenseitige Vertretung von Ehegatten in Angelegenheiten der Gesundheitssorge, § 1358 BGB O Verhinderungsbetreuer soll regelhaft vorgeschlagen werden, § 12 Abs. 1 Satz 6 BtOG O Kontrollbetreuung wurde vo¨llig neu geregelt, Richterzusta¨ndigkeit, Gutachten erforderlich, Mo¨glichkeit eines voru¨bergehenden gerichtlichen Verbots der Ausu¨bung einer Vorsorgevollmacht, Widerruf der Vorsorgevollmacht muss nicht mehr ausdru¨cklich als Aufgabenbereich genannt werden, enge Voraussetzungen und Genehmigungspflicht fu¨r Widerruf der Vollmacht O Neue Terminologie bzw. Legaldefinitionen, z. B. Vertretener und vertretender Ehegatte, § 1358 BGB, Stammbeho¨rde § 2 Abs. 4 Satz 1 BtOG, Sozialbericht § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BtOG, Vertretungsbetreuer und Erga¨nzungsbetreuer, § 1817 Abs. 4 und 5 BGB Highlights der Reform: O „Wunsch“ und „mutmaßlicher Wille“ ersetzen die Trias „Wohl, Wille, Wunsch“; Streichung des Begriffs „Wohl“ des Betreuten in allen Bereichen des Betreuungs- und Unterbringungsrechts O Ehrenamt vor Berufsbetreuer, Individualbetreuer vor Organisationsbetreuung, Betreuungsverein vor Betreuungsbeho¨rde, § 1816 Abs. 5, § 1818 Abs. 1 BGB O Ehegattenvertretungsrecht in engen Grenzen als eine neue Form der gesetzlichen Vertretung O Registrierung durch die Stammbeho¨rde als Voraussetzung fu¨r die Bestellung als Berufsbetreuer 2.4.3 U¨bergangsvorschriften Wichtig sind auch die U¨ bergangsvorschriften, die in Art. 229 § 54 EGBGB U¨ bergangsvorschrift zum Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts zu finden sind. Dort wird der Umgang mit den Bestandsverfahren geregelt, etwa fu¨r den Aufgabenbereich „Gegenbetreuer“, „Alle Angelegenheiten“ sowie § 1815 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 BGB mit der nunmehr erforderlichen ausdru¨cklichen Anordnung von bestimmten Aufgabenbereichen. Fu¨r Betreuungen, die bereits am 1.1.2023 bestanden haben, aber den Anforderungen an die ausdru¨ckliche Anordnung nicht genu¨gen, besteht bis zum 1.1.2028 nur eine Anpassungspflicht. Dieser muss das Gericht bei der „na¨chsten Entscheidung u¨ber die Aufhebung oder Verla¨ngerung der Betreuung oder im Rahmen eines gerichtlichen Genehmigungsverfahrens nach § 1831 Abs. 2 des BGB“ nachkommen, Art. 229 EGBGB, § 54 Abs. 4 Satz 2 FamFG. Fu¨r das Verfahren bei der Anpassung sind„die Vorschriften u¨ber die Erweiterung der Betreuung nach § 293 FamFG entsprechend anzuwenden“ (BGH, Beschl. v. 7.2.2024 – XII ZB 130/23, Grundsa¨tze und Geschichte des Betreuungsrechts A1 A1.7 Aktualisierung Oktober 2024 HB Betreuer, Bo¨ hm www.WALHALLA.de A 26 27 28 www.walhalla.de 27

Rn. 16). Der BGH will den Betreuungsgerichten die Arbeit erleichtern und ha¨lt § 293 Abs. 3 FamFG fu¨r anwendbar, sodass auf ein Gutachten oder ein a¨rztliches Zeugnis verzichtet werden kann. Diese Regelung greift aber nur, „wenn der Aufgabenkreis des Betreuers nicht aufgrund einer A¨nderung des Krankheits- oder Behinderungsbildes des Betroffenen, sondern aufgrund der A¨nderung seiner Lebensumsta¨nde oder einer unzureichenden Wirkung anderer Hilfen erweitert werden soll“, § 293 Abs. 3 FamFG. Eine A¨nderung des Krankheits- oder Behinderungsbilds liegt zwar bei einer Gesetzesa¨nderung nicht vor, aber ebenso wenig kann man von einer A¨nderung der Lebensumsta¨nde oder einer unzureichenden Wirkung anderer Hilfen sprechen, wenn der Gesetzgeber neue Regelungen trifft. A1 Grundsa¨tze und Geschichte des Betreuungsrechts A1.8 HB Betreuer, Bo¨ hm Aktualisierung Oktober 2024 www.WALHALLA.de A 28 www.walhalla.de

1. Pflichten des Betreuers 1.1 Wu¨nsche des Betreuten Wohl, Wille und Wunsch waren seit der Einfu¨hrung des Betreuungsrechts die bekannte Trias fu¨r die Arbeit der Betreuer. Diese drei Maßsta¨be wurden durch die Reform vo¨llig auf den Kopf gestellt – mit dem Ziel, durch das Eliminieren des objektiven „Wohles“ die Arbeit noch intensiver als bisher auf die Betroffenen hin zu fokussieren. § 1821 gilt dabei als zentrale Norm und „Magna Charta fu¨r das gesamte Betreuungswesen“, BT-Drucks. 19/24445, S. 249. Am besten la¨sst sich der Paradigmenwechsel anhand der einschla¨gigen Schlagwo¨rter darstellen. O Primat der Unterstu¨tzung leitet sich her aus Art. 12 Abs. 3 UN-BRK mit der Forderung: „Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstu¨tzung zu verschaffen, die sie bei der Ausu¨bung ihrer Rechts- und Handlungsfa¨higkeit gegebenenfalls beno¨tigen“. O Selbstbestimmungsrecht des Betreuten leitet sich her aus Art. 1, 2 GG. O Methode der unterstu¨tzten Entscheidungsfindung leitet sich her aus § 1821 Abs. 2 BGB; Umsetzung der eigenen Wu¨nsche durch den Betreuten, wobei er rechtlich durch den Betreuer zu unterstu¨tzen ist. Sie bedeutet die Abkehr von der zwingend ersetzenden zu einer Kann-Entscheidung des Betreuers, §§ 1823, 1821 Abs. 2 Satz 2 BGB. O Schutzpflicht des Staats gegenu¨ber hilfebedu¨rftigen Erwachsenen, herzuleiten aus Art. 2 Abs. 2 GG (BVerfG, Beschl. v. 12.5.2020 – 1 BvR 1027/20); dient der Grenzziehung fu¨r die „Wu¨nsche“ des Betreuten. Der Begriff „Wohl“ wurde abgeschafft, weil er als objektiver Maßstab im Verdacht stand, die Selbstbestimmung zu vernachla¨ssigen. Das „Wohl“war aber nicht nur eine gut gemeinte, aber fremdbestimmte paternalistische Fu¨rsorge, sondern auch eine sinnvolle Brandmauer gegen krankheits- oder behinderungsbedingte Selbstscha¨digungen. Es verbleiben daher nur noch die Maßsta¨be „Wu¨nsche des Betroffenen“ oder „mutmaßlicher Wille“. Fu¨r den Betreuer sind also die Wu¨nsche des Betreuten die relevante Richtschnur bei der Besorgung der Angelegenheiten. 1.2 Kla¨rung der neuen Terminologie und der Frage: Wo bleibt der „Wille“? 1.2.1 Freier Wille, natu¨rlicher Wille, Wu¨nsche, mutmaßlicher Wille Die Gesetzesbegru¨ndung ra¨umt ein, den Begriff „freier Wille“ nicht mehr erwa¨hnt zu haben. Dieses Manko wird folgendermaßen erkla¨rt: Ungeschriebene – da selbstversta¨ ndliche – Norm ist, dass der Wille des Betreuten, solange dieser ihn frei bilden kann, stets zu beachten ist und nicht von ihm abgewichen werden darf. Aber auch dann, wenn die Fa¨ higkeit zur freien Willensbildung aufgehoben ist, darf nicht auf ein objektives Wohl zuru¨ ckgegriffen werden, sondern es sind die Wu¨ nsche und hilfsweise der mutmaßliche Wille des Betreuten zu beachten. Soweit im Gesetz vom „Willen“gesprochen wird, ist damit der frei gebildete Wille gemeint. (BT-Drucks. 19/24445, S. 250) Der Wunsch umfasst somit einen mit freiem Willen gea¨ußerten Wunsch, aber auch den mit natu¨rlichem Willen zum Ausdruck gebrachten Wunsch. So umfassend ist auch der „erkla¨rte Wille“ zu verstehen, der fu¨r die Bestellung eines Kontrollbetreuers relevant sein kann, § 1820 Abs. 3 Nr. 2 BGB. Kann beides nicht festgestellt werden, wird der mutmaßliche Wille des Betreuten relevant, der zwar nicht auf einer Kundgabe des Betreuten beruht, aber einen individuellen subjektiven Willen darstellen soll. A3 Fu¨hrung der Betreuung, Pflichten des Betreuers A3.40 HB Betreuer, Bo¨ hm Aktualisierung Oktober 2024 www.WALHALLA.de A 1 2 3 4 60 www.walhalla.de

1.2.2 Grafik zum besseren Versta¨ndnis Betreuer muss Feststellungen zu vorhandenen Wünschen treffen. Ergebnis: Es gibt feststellbare Wünsche. Ergebnis: Wünsche sind nicht feststellbar oder nicht erfüllbar gemäß § 1821 Abs. 3 Nr. 1 BGB (Gefährdung). Wünsche basieren auf freiem Willen Der freie Wille ist immer zu beachten, auch wenn er unvernünftig ist. Betreuer kann nicht eingreifen; keine Begrenzung durch § 1821 Abs. 3 BGB. Wünsche sind evtl. nicht vorhanden oder erfüllbar gemäß 2. Schranke Wünsche sind krankheitsbedingt und somit nicht frei (freier natürlicher Wille) Betreuer hat den Wünschen zu entsprechen, egal, ob sie vor der Betreuung oder in der Betreuung geäußert wurden. Aktueller Wunsch hat Vorrang! 1. Schranke: „(…) im Rahmen seiner Möglichkeiten“ Bindung ist ferner eingeschränkt gemäß § 1821 Abs. 3 BGB: 2. Schranke in Nr. 1: „(…) soweit die Person des Betreuten oder dessen Vermögen hierdurch erheblich gefährdet würde und der Betreute diese Gefahr aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann“ oder 3. Schranke in Nr. 2: „dies dem Betreuer nicht zuzumuten ist“ Mutmaßlicher Wille Betreuer muss den mutmaßlichen Willen feststellen und ihm Geltung verschaffen anhand von: • konkreten Anhaltspunkten • früheren Äußerungen • ethischen oder religiösen Überzeugungen • sonstigen persönlichen Wertvorstellungen Bindung ist dem Wortlaut nach nicht eingeschränkt gemäß § 1821 Abs. 3 BGB. Wohl aber entsprechende Anwendung; der mutmaßliche Wille muss ja nicht vernünftig sein, wenn der Betreute z. B. auf seine Gesundheit nie Rücksicht genommen hat (Stress, Alkohol, Rauschgift, ungesunde Ernährung, Nikotin). Gesetzgeber geht davon aus, dass mutmaßlicher Wille immer feststellbar ist. Ein Ergebnis ist daher immer erzielbar (anders BGH, Beschl. v. 29.7.2020 – XII ZB 173/18). Fu¨hrung der Betreuung, Pflichten des Betreuers A3 A3.41 Aktualisierung Oktober 2024 HB Betreuer, Bo¨ hm www.WALHALLA.de A www.walhalla.de 61

Eine Betreuung kann auch angeordnet werden, wenn der Betroffene seinen Willen noch frei bilden kann. Das ergibt sich schon aus § 1814 Abs. 2 BGB. Der freie Wille wurde bisher immer im Gegensatz zu dem defizita¨ren natu¨rlichen Willen gesehen. Das Defizit besteht darin, dass krankheitsbedingt die fu¨r den freien Willen notwendige Erkenntnisfa¨higkeit und die Fa¨higkeit, eine selbstbestimmte Abwa¨gung und Entscheidung zu treffen, ganz oder teilweise außer Kraft gesetzt sind. Der freie Wille eines Menschen ist immer bindend – und zwar auch fu¨r den Betreuer. Den Wu¨nschen, die auf einem unfreien Willen beruhen, muss der Betreuer grundsa¨tzlich auch „entsprechen“, wobei aber die Wu¨nsche „nur im Rahmen seiner Mo¨glichkeiten“ zu beachten sind und gema¨ß § 1821 Abs. 3 BGB beschra¨nkt sein ko¨nnen. Die Einschra¨nkungen sind aber die Ausnahme und die Beachtlichkeit die Regel. Ko¨nnen keinerlei relevante Wu¨nsche festgestellt werden, muss auf den mutmaßlichen Willen abgestellt werden, der nach Maßgabe des § 1821 Abs. 4 BGB festzustellen ist. 1.3 Erla¨uterung des Pflichtenkatalogs in § 1821 BGB 1.3.1 Grundlegende Verpflichtung, § 1821 Abs. 1 BGB Die grundlegende Pflicht besteht darin, dass der Betreuer alle Ta¨tigkeiten vornimmt, die erforderlich sind, um die Angelegenheiten des Betreuten rechtlich zu besorgen. Das Gesetz erwa¨hnt die Erledigung der Angelegenheiten des Betreuten schon als Voraussetzung fu¨r die Betreuung in § 1814 Abs. 1 BGB und als Kriterium fu¨r die Eignung des Betreuers in § 1816 Abs. 1 BGB. Umgekehrt darf der Betreute selbst nicht mehr in der Lage sein, diese Angelegenheiten selbst zu erledigen bzw. es mu¨ssen alternative Erledigungsmo¨glichkeiten (andere Hilfen, erweiterte Unterstu¨tzung, § 8 BtOG) fehlen. Eine fremdbestimmte Erledigung der Angelegenheiten ist jedoch nicht gewollt. Vielmehr muss der Betreuer den Betreuten dabei unterstu¨tzen, seine Angelegenheiten rechtlich selbst zu besorgen, weshalb er von seiner Vertretungsmacht nach § 1823 BGB nur Gebrauch macht, soweit das erforderlich ist. Insoweit realisiert § 1821 Abs. 1 BGB die Methode der unterstu¨tzten Entscheidungsfindung. Hierbei ist allerdings zu beru¨cksichtigen, dass der Gesetzgeber einra¨umt, dass das „Konzept der ,unterstu¨tzten Entscheidungsfindungo` £ noch relativ neu ist und es bislang an einheitlichen und generell akzeptierten Standards fehlt, mit welchen Methoden diese von Betreuern in der Kommunikation mit dem Betreuten praktisch umgesetzt werden kann und wo ihre Grenzen liegen“ (BT-Drucks. 19/24445, S. 251). 1.3.2 Wu¨nsche zur Lebensgestaltung des Betreuten, wegweisender Maßstab fu¨r den Betreuer, § 1821 Abs. 2 BGB Zur existenziellen Lebensgrundlage aller Menschen geho¨rt die Mo¨glichkeit, im Rahmen ihrer Fa¨higkeiten das Leben nach ihren eigenen Wu¨nschen zu gestalten. Bei der Erledigung der Angelegenheiten des Betreuten muss der Betreuer beachten, dass der Betreute „im Rahmen seiner Mo¨glichkeiten sein Leben nach seinen Wu¨nschen gestalten kann“. Objektive Maßsta¨be oder die Grundsa¨tze einer wirtschaftlichen Vermo¨gensverwaltung spielen also keine Rolle. Die Wu¨nsche mu¨ssen nicht vernu¨nftig sein und du¨rfen nicht aufgrund rationaler U¨berlegungen abgelehnt werden. Eine Erfu¨llung der Wu¨nsche des Betreuten ist aber – wie bei jedem anderen auch – nur im Rahmen seiner perso¨nlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Ressourcen mo¨glich. 1.3.3 Was versteht man unter Wu¨nschen? Wu¨nsche geben wieder, was man gerne haben mo¨chte, und sind Ausdruck eines Verlangens des Betreuten. Sie werden durch verbale A¨ußerungen bzw. im Einzelfall durch Gesten erkennbar. Unerheblich ist, ob und inwieweit der Betreute gescha¨ftsfa¨hig ist. Die Vorschrift ist gerade bei Gescha¨ftsunfa¨higen bedeutsam; denn der Gescha¨ftsfa¨hige kann selbst handeln, bedarf also meist nicht seines Betreuers zur Verwirklichung eigener Wu¨nsche. Die Pflicht des Betreuers, den Wu¨nschen zu entsprechen, besteht grundsa¨tzlich in allen Lebensbereichen wie Wohnsitz, Art und Auswahl des Pflegeheims, Lebensstil, Erwerbsta¨tigkeit, Urlaub, Freizeit, Entscheidung A3 Fu¨hrung der Betreuung, Pflichten des Betreuers A3.42 HB Betreuer, Bo¨ hm Aktualisierung Oktober 2024 www.WALHALLA.de A 5 6 7 8 62 www.walhalla.de

zwischen Konsum und Kapitalbildung sowie Maßnahmen der Vermo¨gensverwaltung. Der Wunsch des Betroffenen bei Geldausgaben hat Vorrang, auch wenn es um die Alternativen „Sparen“ oder „Ausgeben“ geht. Das Gesetz bietet dem Betreuer keine Handhabe fu¨r die Sicherung seines zuku¨nftigen Vergu¨tungsanspruchs, der erst spa¨ter vom Betreuungsgericht festzusetzen ist, Ru¨cklagen zu bilden. 1.3.4 Sicherstellung der Pflicht des Betreuers, den Wu¨nschen des Betreuten zu entsprechen Das Gesetz hat flankierende Maßnahmen getroffen, damit die Orientierung an den Wu¨nschen des Betreuten auch umgesetzt wird. Feststellungs- und Berichtspflicht zu den „Wu¨nschen“ Der Betreuer muss aktiv werden und die Wu¨nsche des Betroffenen feststellen, § 1821 Abs. 2 Satz 2 BGB. Bei der Anho¨rung im Betreuungsverfahren muss der Richter die Wu¨nsche des Betroffenen aktiv erfragen, § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Im Anfangsbericht muss der Betreuer zudem Angaben zu den Wu¨nschen des Betreuten machen, § 1863 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BGB. Ergeben sich Anhaltspunkte dafu¨r, dass der Betreuer seiner Pflicht, den Wu¨nschen zu entsprechen, pflichtwidrig nicht nachkommt, muss der Betreute vom Gericht hierzu perso¨nlich angeho¨rt werden, § 1862 Abs. 2 BGB. Die Feststellung der Wu¨nsche erfolgt in erster Linie in einem Gespra¨ch. Dabei ko¨nnen folgende Fragen und U¨berlegungen zu Wu¨nschen des Betreuten in das Gespra¨ch einfließen: O Welche Vorstellungen hat der Betreute bezu¨glich seiner Lebensfu¨hrung, -gestaltung? O Welche Fa¨higkeiten sind bei ihm vorhanden und sind diese ausreichend, um eventuelle Defizite in anderen Bereichen auszugleichen? O Welche Mo¨glichkeiten bieten sich an, um positive Lebensbedingungen zu schaffen bzw. zu erhalten (Einsatz von „anderen Hilfen“, insbesondere ambulante, sozialpflegerische und hauswirtschaftliche Dienste, aber auch Nachbarschaftshilfen)? O Wie ko¨nnen Benachteiligungen vermieden bzw. abgebaut werden? O Was kann man zur sozialen und individuellen Entwicklung beitragen? Welche Perspektiven hat der Betreute bzw. welche Mo¨glichkeiten bestehen, diese zu verwirklichen (z. B. berufliche Rehabilitation)? O Liegt die Kontinuita¨t der Lebensfu¨hrung oder eine Vera¨nderung der derzeitigen Situation im Interesse des Betreuten (z. B. Verbleib oder ra¨umliche Trennung von Angeho¨rigen und sonstigen Bezugspersonen, Erhalt der Wohnung oder Heimunterbringung)? O Kann der Betreute seine eigene Situation realistisch einscha¨tzen? O Wie wirken sich Handeln und Eingriffe des Betreuers auf das Leben des Betreuten aus (Eingriffsschwelle nicht zu niedrig ansetzen)? Perso¨ nliche Kontakte zum Betreuten, Berichts- und Besprechungspflicht Eine weitere Sicherung hat der Gesetzgeber in § 1821 Abs. 5 BGB eingebaut, wonach der Betreuer verpflichtet ist, den „erforderlichen perso¨nlichen Kontakt mit dem Betreuten zu halten, sich regelma¨ßig einen perso¨nlichen Eindruck von ihm zu verschaffen und dessen Angelegenheiten mit ihm zu besprechen“. Der regelma¨ßige Kontakt ist gema¨ß § 1863 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 BGB auch Gegenstand der Berichtspflicht des Betreuers. Bereits mit dem Vormundschafts- und Betreuungsrechtsa¨nderungsgesetz vom 5.7.2011 (siehe A 1, Rn. 10) wurde bestimmt, dass der ja¨hrliche Bericht des Betreuers auch Angaben zu den perso¨nlichen Kontakten des Betreuers zum Betreuten zu enthalten hat. Aus dem Bericht haben sich nunmehr „Art, Umfang und Anlass der perso¨nlichen Kontakte“ zu ergeben, das heißt die Anzahl der Kontakte, deren Dauer, Art und Weise sowie Ort und Zeitpunkt. Der Gesetzgeber hat aber keine bestimmte Anzahl der Kontakte vorgegeben, sondern diese dem Erforderlichkeitsgrundsatz unterstellt; auch das Betreuungsgericht kann keine verbindlichen Vorgaben machen. Der Betreuer hat von sich aus zu pru¨fen, wie ha¨ufig Kontakte zu erfolgen haben. Die Ha¨ufigkeit kann sich aus der Person des Betreuten, seinem Alter, seiner ko¨rperlichen Verfassung, aber auch Fu¨hrung der Betreuung, Pflichten des Betreuers A3 A3.43 Aktualisierung Oktober 2024 HB Betreuer, Bo¨ hm www.WALHALLA.de A 9 10 11 12 13 www.walhalla.de 63

daraus ergeben, ob er noch selbststa¨ndig in seiner Wohnung oder in einer Pflegeeinrichtung lebt. Der Betreuer wird in seinem ja¨hrlichen Bericht begru¨nden, warum er seine Kontakte fu¨r ausreichend angesehen hat. Das Gericht kann auch die Weisung erteilen, die Daten der Besuche bei dem Betroffenen zu erfassen und diese in den Bericht mit aufzunehmen, da es nur so eine effektive Kontrolle der Pflicht des Betreuers zum perso¨nlichen Kontakt mit dem Betreuten ausu¨ben kann. Zwar ist es richtig, dass das Gesetz nur wenige Vorgaben zum Berichtsinhalt macht, jedoch kann dem Sinn der Norm, na¨mlich der Fu¨hrung der Aufsicht u¨ber die Ta¨tigkeit des Betreuers durch das Gericht, nur durch einen Bericht Rechnung getragen werden, der u¨ber Anzahl, Ort, Zeitpunkt sowie Dauer der perso¨nlichen Kontakte des Betreuers mit dem Betreuten Auskunft erteilt. Das erfordert auch die Angabe der Kalenderdaten. Das gilt unabha¨ngig davon, ob konkrete Hinweise auf mo¨gliche Pflichtverletzungen durch den Betreuer vorliegen oder ob das Gericht an der pflichtgema¨ßen Betreuerta¨tigkeit zweifelt. Nur so kann der zusta¨ndige Rechtspfleger seiner Pflicht gerecht werden, die „erforderlichen perso¨nlichen Kontakte“ des Betreuers zum Betreuten zu beaufsichtigen, § 1862 BGB. Eine „Mindestkontaktfrequenz“ gibt es fu¨r Betreuer somit nicht, aber sehr wohl eine Richtschnur. In der Regel wird der Betreuer den Betreuten daher einmal im Monat aufsuchen mu¨ssen, entsprechend der Regelung fu¨r den Vormund in § 1790 Abs. 3 Satz 2 BGB (jetzt auch nachzulesen in BT-Drucks. 19/24445, S. 255). Hinweis: Das Gesetz spricht ausdru¨cklich nicht nur von einem perso¨nlichen Kontakt des Betreuers mit dem Betreuten. Sowohl beim Pflichtenkatalog wie auch bei der Berichtspflicht differenziert das Gesetz zwischen O den erforderlichen perso¨nlichen Kontakten, O der Verschaffung eines perso¨nlichen Eindrucks und O der Besprechungspflicht. Selbst wenn der Betreute zu keiner Kommunikation mehr fa¨hig ist, muss der Betreuer ihn regelma¨ßig aufsuchen und sich einen perso¨nlichen Eindruck verschaffen. 1.3.5 Pflichtwidrigkeit, Aufsicht des Betreuungsgerichts, Haftung bei unberechtigter Nichterfu¨llung der Wu¨nsche Die Nichtbeachtung gerechtfertigter Wu¨nsche stellt fu¨r den Betreuer eine Pflichtwidrigkeit dar, die Maßnahmen des Betreuungsgerichts (§ 1821 Abs. 1 und 2, § 1862 Abs. 3 BGB) auslo¨sen kann. Die wiederholte Vernachla¨ssigung der Wu¨nsche des Betreuten kann Zweifel an der Eignung des Betreuers begru¨nden; gema¨ß § 1868 BGB kommt unter Umsta¨nden seine Entlassung in Betracht. Entsteht dem Betreuten aus der nicht begru¨ndeten U¨ bergehung der Wu¨nsche ein Schaden, haftet der Betreuer gema¨ß § 1826 BGB. Verweigert der Betreuer den regelma¨ßigen perso¨nlichen Kontakt mit dem Betreuten und erfa¨hrt er deshalb schon gar nicht, welche Wu¨nsche er hat, ist das ein „wichtiger Grund“, der eine Entlassung rechtfertigt, § 1868 Abs. 1 Satz 2 BGB. 1.3.6 Unbeachtlichkeit der „Wu¨nsche“, § 1821 Abs. 3 BGB Die Verpflichtung, den Wu¨nschen des Betreuten zu entsprechen, ist nicht unbeschra¨nkt. Wie bereits ausgefu¨hrt kann die Erfu¨llung nur im Rahmen der Mo¨glichkeiten des Betreuten erfolgen, § 1821 Abs. 2 BGB. Unmo¨gliches bzw. nicht finanzierbare Wu¨nsche mu¨ssen schon nach dieser Vorschrift nicht erfu¨llt werden. Daru¨ber hinaus muss die Schutzpflicht des Staats gegenu¨ber dem Betreuten gewahrt bleiben. Bereits bisher wurde diese Frage in der Rechtsprechung bei der Bestimmung der Grenzen des vorrangigen objektiven Wohles diskutiert. Dabei bestand ein Konsens dahingehend, dass ein A3 Fu¨hrung der Betreuung, Pflichten des Betreuers A3.44 HB Betreuer, Bo¨ hm Aktualisierung Oktober 2024 www.WALHALLA.de A 14 15 16 17 18 64 www.walhalla.de

Wunsch des Betreuten seinem Wohl nicht schon dann zuwiderla¨uft, wenn er dem objektiven Interesse des Betreuten widerspricht. Vielmehr musste eine Gefahr fu¨r „ho¨herrangige Rechtsgu¨ter“ des Betreuten bestehen oder die Gefahr, dass sich seine gesamte Lebens- und Versorgungssituation erheblich verschlechtert. Diese Einschra¨nkungen wurden nunmehr in Gesetzesform gegossen. 1.3.7 Schranke gema¨ß § 1821 Abs. 3 Nr. 1 BGB Wu¨nsche sind nicht zu beachten, soweit „die Person des Betreuten oder dessen Vermo¨gen hierdurch erheblich gefa¨hrdet wu¨rde und der Betreute diese Gefahr aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann“. Bei der Vermo¨gensgefa¨hrdung ist das etwa dann der Fall, wenn eine Verschlechterung der gesamten „Lebens- und Vermo¨genssituation“ droht. Ho¨herrangig sind natu¨rlich die Rechtsgu¨ter Leben und Gesundheit. Beim Vermo¨gen ist zudem wichtig, dass der Betreute bis zu seinem Tod von seinen Einku¨nften leben kann. Der Wunsch der Erben, das Vermo¨gen zu erhalten, spielt dagegen bei einem entgegenstehenden Wunsch des Betreuten keine Rolle. 1.3.8 Schranke gema¨ß § 1821 Abs. 3 Nr. 2 BGB Wu¨nschen muss der Betreuer nicht entsprechen, soweit ihm das nicht zumutbar ist. Diese Schranke stellt eine Kollision zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Betreuten und den legitimen Rechten des Betreuers dar. Die Belastung des Betreuers muss aber unangemessen hoch sein. In Betracht kommen Wu¨nsche, deren Erfu¨llung zu einer Gefa¨hrdung von Dritten oder zu einer Selbstscha¨digung fu¨hren ko¨nnte. Selbstversta¨ndlich darf sich der Betreuer weigern, Wu¨nschen zu entsprechen, die nur mit rechtswidrigen Handlungen erfu¨llbar oder mit einem unverha¨ltnisma¨ßigen Aufwand verbunden wa¨ren. Kritisch zu sehen ist die Ablehnung, wenn sie nur aufgrund eigener ethischer, religio¨ser oder allgemeiner Wertvorstellungen des Betreuers erfolgt. Hier wird die Ansicht vertreten, dass es dabei nicht um „Unzumutbarkeit“ geht, sondern um eine mangelnde Eignung des Betreuers. Eine sinnvolle Abgrenzung zur „Unzumutbarkeit“ ist wohl nicht mo¨glich, da auch dem Mainstream nicht entsprechende Wertvorstellungen dem Betreuer die Umsetzung der Wu¨nsche erschweren ko¨nnen. Beispiel: Egon Gold ist sehr vermo¨ gend und hat immer sehr ausschweifend gelebt. Nunmehr ist er mittelgradig dement und sein Bruder Franz wurde zum Betreuer bestellt mit den Aufgabenbereichen „Vermo¨ gensverwaltung mit Einwilligungsvorbehalt“und „Gesundheitsfu¨ rsorge“. Sein Betreuer ist katholischer Priester und wurde auf Wunsch des Betreuten als Betreuer eingesetzt. Die Betreuung funktioniert hervorragend, weil sich die Bru¨ der sehr gut verstehen. Egon wu¨ nscht sich aber wo¨ chentliche Besuche der feschen Lola, die seit Jahren der Prostitution nachgeht. Der Lohn dafu¨ r in Ho¨ he von 2.500 EUR monatlich fa¨ llt beim Millionenvermo¨ gen von Egon nicht ins Gewicht. Franz will dem Su¨ ndenfall seines ebenfalls katholischen Bruders nicht Vorschub leisten und weigert sich, Lola fu¨ r ihr su¨ ndiges Treiben zu bezahlen. Lo¨ sungsweg: 1. Grundsa¨ tzlich muss der Betreuer den Wu¨ nschen seines Betreuten „entsprechen“, § 1821 Abs. 2 Satz 3 BGB. 2. Die 1. Schranke Die Pflicht beschra¨ nkt sich auf das, was im Rahmen der Mo¨ glichkeiten des Betreuten liegt. Die 2.500 EUR liegen im Rahmen dessen, was Egon sich problemlos leisten kann. 3. Die 2. Schranke § 1821 Abs. 3 Nr. 1 BGB: Erhebliche Gefa¨ hrdung der Person oder des Vermo¨ gens des Betreuten. Die Liebesdienste sind mit keinerlei Gefa¨ hrdung verbunden. Fu¨hrung der Betreuung, Pflichten des Betreuers A3 A3.45 Aktualisierung Oktober 2024 HB Betreuer, Bo¨ hm www.WALHALLA.de A 19 20 www.walhalla.de 65

4. Die 3. Schranke § 1821 Abs. 3 Nr. 2 BGB: Unzumutbarkeit fu¨ r den Betreuer Fu¨ r einen Pfarrer ist der regelma¨ ßige Besuch einer „Liebesdienerin“ eine Gefahr fu¨ r das Seelenheil und ein eklatanter Verstoß gegen die katholische Sexualmoral. Diese Ansicht du¨ rfte angesichts der immensen Zahl von Prostituierten keinen gesellschaftlichen „Mainstream“darstellen. Man kann die Sorge des Bruders wohl mit guten Gru¨ nden als Unzumutbarkeit fu¨ r einen Pfarrer werten, dem das Seelenheil seines Bruders sehr am Herzen liegt. Nimmt man dagegen teilweise Ungeeignetheit an, ko¨ nnte man einen Verhinderungsbetreuer bestellen. 1.3.9 Der „mutmaßliche Wille“ als Auffangtatbestand fu¨r fehlende oder nicht erfu¨llbare Wu¨nsche, § 1821 Abs. 4 BGB Wu¨ nsche des Betreuten du¨ rfen nicht feststellbar sein Diese Voraussetzung kann bejaht werden, wenn sich der Betreute u¨berhaupt nicht mehr sinnvoll a¨ußern kann oder will. Bei einer fortgeschrittenen Demenz, einem massiven fru¨hkindlichen Hirnschaden oder einem Wachkomazustand kann das der Fall sein. Daru¨ber hinaus ist aber der Betreuer verpflichtet, die Wu¨nsche des Betreuten zu ermitteln. Dabei greifen verschiedene Regelungen zur Intensivierung und Kontrolle der Ermittlungspflicht (siehe Rn. 7 ff.). Vorhandene Wu¨ nsche, die aber nicht erfu¨ llt werden du¨ rfen, § 1821 Abs. 3 Nr. 1 BGB Achtung: Der Auffangtatbestand greift nach dem Wortlaut nur, wenn die Gefa¨hrdungstatbesta¨nde vorliegen, und nicht bei Unzumutbarkeit fu¨r den Betreuer gema¨ß § 1821 Abs. 3 Nr. 2 BGB. Was ist der mutmaßliche Wille und wie findet man ihn? Der Gesetzgeber hat auf einen Begriff abgestellt, der zuna¨chst bei der Regelung der Patientenverfu¨gung bzw. Behandlungswu¨nsche in den § 1827 Abs. 2 BGB und spa¨ter durch die Verweisung bei der Zwangsbehandlung in § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB und in zahlreiche landesrechtliche PsychKGs und PsychKHGs Eingang gefunden hat. Der mutmaßliche Wille ist zuna¨chst kein gea¨ußerter, sondern ein fiktiver Wille, der aber anhand subjektiver Kriterien festgestellt werden muss und zwar wie folgt: O Konkrete Anhaltspunkte sind zu ermitteln. O Fru¨here A¨ußerungen sind zu beru¨cksichtigen. O Ethische oder religio¨se Wertvorstellungen sind mit einzubeziehen. O Angaben naher Angeho¨riger und sonstiger Vertrauenspersonen sind zu erfragen. Den Betreuer trifft also eine umfassende und sehr schwierige Ermittlungs- und Beru¨cksichtigungspflicht. Konkrete Anhaltspunkte und fru¨here A¨ußerungen sind da noch am ehesten faktenbezogen. Allerdings mu¨ssen verla¨ssliche und vor allem zuverla¨ssige Informationen vorliegen. Problematisch sind Angaben aus dem sozialen Umfeld. Jede unbedachte A¨ußerung gegenu¨ber einem Menschen, wobei man vielleicht nur dem Erwartungshorizont des Gespra¨chspartners entgegengekommen ist, wird plo¨tzlich zu einer vielleicht lebensentscheidenden Wertvorstellung, wobei auch noch die Filterwirkung eigener Wertvorstellungen des Gespra¨chspartners unerkannt bleiben. Gemeint ist, dass man geneigt ist, alle Aussagen auszublenden, bis eine gern geho¨rte A¨ußerung fa¨llt. „Fu¨r die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens gelten zudem beweisma¨ßig strenge Maßsta¨be“, die der hohen Bedeutung der betroffenen Grundrechte (Leben, Selbstbestimmung, ko¨rperliche Unversehrtheit) gerecht werden mu¨ssen. Das kann den Betreuer schnell u¨berfordern. Der BGH dazu: Es „ist darauf zu achten, dass nicht die Werte und Vorstellungen des Betreuers zum Entscheidungsmaßstab werden“. Bei so vielen Thesen, Spekulationen und Hypothesen ko¨nnen sehr schnell die eigenen Befindlichkeiten u¨berhandnehmen (BGH, Beschl. v. 17.9.2014 – XII ZB 202/13, Rn. 37). A3 Fu¨hrung der Betreuung, Pflichten des Betreuers A3.46 HB Betreuer, Bo¨ hm Aktualisierung Oktober 2024 www.WALHALLA.de A 21 22 23 24 66 www.walhalla.de

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