Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement Göckler · Rübner Entwicklungslinien, professionelle Standards und Variantenvielfalt des Case Managements LQ GHU %HVFK¦IWLJXQJVI¸UGHUXQJ DNWXDOLVLHUWH $Xʴ DJH 6*% ,, § § Bürgergeld
WISSEN FÜR DIE PRAXIS • AKTUELL • PRAXISGERECHT • VERSTÄNDLICH 6R]LDOH XQG EHUXʴ LFKH ,QWHJUDWLRQ I¸UGHUQ Das beschäftigungsorientierte Fallmanagement hat sich seit seiner Einführung 2005 in der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu einem etablierten Verfahren entwickelt. Insbesondere für Menschen mit lang anhaltender Arbeitslosigkeit bietet sich den umsetzenden Trägern damit ein Verfahren, die Lebenssituation und die Integrationschancen dieser Personenkreise nachhaltig zu verbessern. Dieses Buch für Praktiker, Studierende, Lehr- und Führungskräfte bietet eine fundierte Einführung: • in die Entstehungsgeschichte des beschäftigungsorientierten Fallmanagements • in die methodische und organisatorische Umsetzung • in die Arbeit mit ausgewählten Zielgruppen • in neue Entwicklungsperspektiven • in weiterhin bestehende Herausforderungen bei der Umsetzung (z. B. von Qualitätsstandards des Case Managements) Dies alles auf Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse, arbeitsmarktpolitischer Weichenstellungen (Stichwort Bürgergeld) und großer Praxisnähe. Unterstützt wird die methodische Umsetzung durch konkretisierende Ausführungen ausgewählter Ansätze. Prof. Dr. Rainer Göckler (emeritiert), Professor für Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, leitete die Studienrichtung „Arbeit, Integration und soziaOH 6LFKHUXQJȦ GDYRU 3URIHVVRU I¾U ,QWHJUDWLRQVPDQDJHPHQW DQ GHU +G%$ ]HUWLʳ ]LHUWHU Case Management-Ausbilder (DGCC), Coach und Supervisor (MI). Prof. Dr. Matthias Rübner, Professor für Integrationsmanagement an der Hochschule der %XQGHVDJHQWXU I¾U $UEHLW +G%$ ]HUWLʳ ]LHUWHU &DVH 0DQDJHPHQW $XVELOGHU '*&& Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Case Management, Berufswahlforschung, Beratungswissenschaften. ISBN 978-3-8029-7436-6 € 49,95 [D] www.WALHALLA.de
Gesamtinhaltsübersicht Professionellen Standards folgen und die lokale Umsetzung entwickeln ............................................................................................ 10 Abkürzungsverzeichnis ...................................................................... 13 I. Case Management und beschäftigungs- orientiertes Fallmanagement ................................................ 17 1.1 Definition, Entwicklung und Einordnung ................................. 18 1.2 Begriffsklärungen ....................................................................... 18 1.3 Historische Rückblenden und Entwicklungslinien .................... 24 1.4 Das SGB II – ein Arbeitsfeld für das Case Management? ......... 29 II. Umsetzung des Fallmanagements in der Beschäftigungsförderung .......................................... 35 2.1 Einflusssphären auf das Fallmanagement ................................. 36 2.2 Rechtlicher Rahmen .................................................................... 37 2.3 Organisationale Grundsatzentscheidungen ............................. 41 2.4 Fachliche Standards und ethische Grundlagen ......................... 45 2.5 Weitere Einflussfaktoren ............................................................ 55 III. Prozessschritte und Standards im beschäftigungs- orientierten Fallmanagement ............................................... 59 3.1 Prozessstruktur des Case Managements ................................... 60 3.2 Fallzugang und Einstiegsberatung ............................................ 62 3.3 Assessment .................................................................................. 74 3.4 Integrationsplanung ................................................................... 111 3.5 Koordinierte Durchführung ....................................................... 129 3.6 Fallabschluss und Evaluation ..................................................... 158
IV. Organisatorische Vielfalt des Fallmanagements in der Praxis der Jobcenter .................................................... 161 4.1 Organisationsvarianten und Mindestvoraussetzungen für das Case Management ......................................................... 162 4.2 Spezialisierte Varianten .............................................................. 163 4.3 Generalisierte Varianten ............................................................ 165 4.4 Sicherndes/soziales Fallmanagement ........................................ 166 4.5 Ganzheitliches Fallmanagement ............................................... 168 4.6 Aufsuchendes Fallmanagement ................................................ 170 4.7 Fallmanagement in der Beschäftigungsförderung durch Dritte ................................................................................. 176 V. Zielgruppenvielfalt des Fallmanagements in der Praxis der Jobcenter .................................................... 181 5.1 Zielgruppenoffenheit vs. Zielgruppenfestlegung .................... 182 5.2 Fallmanagement für junge Menschen ...................................... 183 5.3 Fallmanagement für ältere langzeitarbeitslose Menschen .................................................................................... 193 5.4 Ganzheitliches Fallmanagement mit Familien .......................... 203 5.5 Fallmanagement mit gesundheitlich beeinträchtigten Personen ...................................................................................... 212 5.6 Fallmanagement in Flucht-/Migrationsteams ............................. 236 5.7 Fallmanagement bei der Betreuung Alleinerziehender ............ 246 5.8 Fallmanagement für wohnungslose Menschen ......................... 255 VI. Von politischen Leistungsvergleichen zu ersten Ansätzen einer qualitativen Erfassung von Wirkung ....... 273 6.1 Wirkungsmessung sozialer Dienstleistungen ........................... 274 6.2 Status quo: Leistungsvergleiche, Integrationszahlen und nicht erfasste Beiträge ........................................................ 276 6.3 Ein Messkonzept auf Basis des Befähigungsansatzes (Capability Approach) ................................................................ 279 6.4 Steuerungs- und Controllingchancen mit dem Handlungs- konzept Case Management ....................................................... 288
VII. Kritik und forschungstheoretische Perspektiven ............. 301 7.1 Die Kritik am Fallmanagement aus der Sozialen Arbeit .......... 302 7.2 Forschungstheoretische Einordnung – ein Ansatz ................... 313 7.3 Wo steht das beschäftigungsorientierte Fallmanagement? .... 320 Literaturverzeichnis ............................................................................ 323 Abbildungsverzeichnis ....................................................................... 360 Tabellenverzeichnis ............................................................................. 362 Stichwortverzeichnis ........................................................................... 363
10 www.WALHALLA.de Professionellen Standards folgen und die lokale Umsetzung entwickeln Seit der 1. Auflage im Jahre 2006 ist dieses Buch von dem Leitgedanken getragen, die zentralen Zielsetzungen und Standards des Case Management-Ansatzes für das Feld der Beschäftigungsförderung zu entwickeln und gegenüber einseitigen Lesarten einer Aktivierungspolitik und restriktiven Handlungsbedingungen vor Ort zu verteidigen. Das Fallmanagement in der Beschäftigungsförderung bewegt sich nach wie vor in einem ambivalent ausgestalteten Zielsystem und Leistungsspektrum. Die Leistungsträger haben den Auftrag, angesichts der vielfach komplexen Be- darfslagen der berechtigten Personen eine umfassende und ganzheitliche Unterstützung sicherzustellen, die neben beschäftigungsorientierten Zielen auch Fragen der sozialen Teilhabe und bildungsbezogene Aspekte umfasst. An dieser Stelle werden die zentralen Postulate des Fürsorge- gedankens und der Beschäftigungspolitik zusammengeführt. Diese He- rausforderung tritt angesichts der Diskussionen um den Fachkräftemangel, die demografische Entwicklung, die Zuwanderung und die weiterhin hohe Langzeitarbeitslosigkeit stärker in den Vordergrund als in den vergangenen Jahren. Das Fallmanagement muss sich in diesem dynamischen Spannungsfeld positionieren und behaupten. Hierbei kommt der Klärung professionsspezifischer Standards eine entscheidende Bedeutung zu, um die eigene methodische Arbeitsweise fachlich und ethisch abzusichern und eine entsprechend selbstbewusste und professionelle Haltung auszubilden – und dies auch gegenüber Erwartungen, wonach man Fälle, Produkte und Prozesse nur richtig steuern müsse, um vordefinierte Zielgrößen schnellstmöglich erreichen zu können. Hierzu möchte die vorliegende Publikation einen Beitrag leisten. Den Ausgangspunkt des Buches bilden eine grundbegriffliche Klärung und Einordnung des Mehr-Ebenen-Ansatzes Case Management in das Handlungsfeld der Beschäftigungsförderung (Kapitel 1). Es folgt eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen, die die Umsetzungs- und Wirkungsmöglichkeiten des Fallmanagements beeinflussen. Dazu gehören neben rechtlichen und organisatorischen Bestimmungsmerkmalen auch die professionellen Standards und ethischen Grundlagen des Case Managements (Kapitel 2). Wie schon in den vorherigen Auflagen nimmt die Darstellung des methodischen Konzepts und der damit verbundenen Qualitätsstandards einen breiten Raum ein (Kapitel 3). Für die konkrete Fallarbeit lassen sich daraus konkrete Orientierungspunkte gewinnen, auch in Auseinandersetzung mit lokalen Konzepten und Rahmenbedingungen. Fachliche Exkurse, Methodeninfos und Reflexionsimpulse bieten die Möglichkeit zur weiteren Vertiefung und konkreten Anwendung. Die institutionelle und organisatorische Umsetzung der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist bis heute durch eine vergleichsweise große Vielfalt
www.WALHALLA.de 11 und Heterogenität geprägt – von unterschiedlichen Trägerstrukturen, innerorganisatorischen Aufbau- und Ablauforganisationen bis hin zu heterogenen Personal- und Qualitätsmanagementkonzepten. Dieser Umstand betrifft natürlich auch die Umsetzung des Fallmanagements vor Ort. Aus diesem Grund unternimmt die vorliegende Publikation den Versuch, diese Variantenvielfalt systematisch abzubilden. Dies geschieht auf zweierlei Weise: Zum einen werden die Umsetzungsvarianten des Fall- managements – von spezialisierten bis hin zu aufsuchenden Ansätzen – dargestellt und eingeordnet (Kapitel 4). Zum anderen werden die ver- schiedenen im Handlungsfeld zu beobachtenden zielgruppenspezifischen Zugänge und Ansätze (z. B. für junge Menschen oder gesundheitlich beeinträchtige und suchtkranke Personen) behandelt (Kapitel 5). Wohl wissend, dass damit nicht alle Spielarten und Besonderheiten der lokalen Umsetzung einfließen können, wird der Versuch unternommen, auf Basis aktuell verfügbarer Daten und Erkenntnisse einen strukturierten Überblick über diese Vielfalt in der Praxis zu geben. Im Rahmen der vorliegenden 7. Auflage ging es vor allem um die Aktua- lisierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und verfügbarem Zahlenmaterial sowie die inhaltliche Sichtung der vorherigen Auflage. Dabei spielten Rechtsänderungen (Bürgergeldgesetz) ebenso eine Rolle wie Praxiserkenntnisse und Forschungsbefunde. Nicht zuletzt aus diesen Gründen haben wir zunächst auf die bisherige Einbeziehung der Betreuung von Menschen mit Behinderungen im Case Management verzichtet, um die in der Praxis noch zahlreich vorzufindenden Brüche und Unsicherheiten in einer späteren Ausgabe aufzuarbeiten. Gleichzeitig wurde das Kapitel zum Fallmanagement mit gesundheitlich beeinträchtigten Menschen erweitert, insbesondere im Hinblick auf psychische Erkrankungen. Die Überarbeitung erfolgte im Wesentlichen durch Andreas G. Franke, Professor für Fallmanagement an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Trotz mancher ermutigenden Entwicklungen und Innovationen wird das vorhandene Leistungsspektrum und mögliche Potenzial in der Grundsicherung für Arbeit durch die vorherrschenden Kennzahlen und Zielsteuerungssysteme weiterhin nicht ausreichend abgebildet und teilweise sogar ausgebremst. Auch international tun sich staatliche Einrichtungen im Rahmen ihrer internen Steuerungs- und Evaluationsprozesse ausgesprochen schwer, die Seite im Hilfeprozess abzubilden, die nicht primär auf einer formalisierten Arbeitsweise und auf An- und Abmeldungen von Hilfebedürftigen basiert. So fehlen vor Ort häufig die Ideen, Ressourcen und Anreize für die Geschäftsführung und Mitarbeitenden, ein über statusbezogene Kennzahlen hinausgehendes Verständnis der Grundsicherungsarbeit um- zusetzen. Vor diesem Hintergrund wird auch in der vorliegenden Auflage nach Möglichkeiten gesucht, den Teilhabeauftrag des SGB II, der für das beschäftigungsorientierte Fallmanagement handlungsleitend ist, auf eine facettenreichere Weise abzubilden, als das bislang geschieht (Kapitel 6). Dieses Kapitel versteht sich als ein erster Diskussionsbeitrag, der dazu einladen
12 www.WALHALLA.de will, diese im Case Management-Ansatz integrierte Perspektive der Evaluation für das Handlungsfeld der Beschäftigungsförderung weiterzudenken. Die Umsetzung des Case Managements in der Beschäftigungsförderung ist nicht ohne Kritik geblieben. Auch wenn diese Kritik inzwischen nicht mehr so vehement und pauschal ausfällt wie in den ersten Jahren, gehört es zum Anspruch eines Fachbuchs, diese aufzugreifen und zu reflektieren. Gleiches gilt für die Frage einer forschungstheoretischen Einordnung des beschäftigungsorientierten Fallmanagements, mit der dieses Buch schließt (Kapitel 7). Jedes Kapitel ist so verfasst, dass es auch für sich gelesen werden kann. Querverweise auf andere Kapitel geben an, wo Fachbegriffe und Konzepte einführend behandelt worden sind; aktuelle Literaturquellen ermöglichen eine weitere Vertiefung. Wie schon in den vorherigen Auflagen richtet sich das Buch an: ■ angehende Case Managerinnen und Case Manager während der Qualifizierung, die hier das fundierte Wissen um Theorie und Umsetzung des beschäftigungsorientierten Fallmanagements erhalten ■ bereits tätige Fachkräfte in der Beschäftigungsförderung, die sich mit der Fragestellung des Case Managements angesichts neuer Aufgaben beschäftigen müssen und eine Orientierung hierfür suchen ■ Studierende in Studiengängen, die die Thematik des Case Managements aufgreifen und im Hinblick auf das Einsatzfeld der Beschäftigungs- förderung vertiefen wollen ■ Führungskräfte, die sich mit der Implementation von Case Management in der Beschäftigungsförderung beschäftigen ■ wissenschaftliche Fachkolleginnen und -kollegen, die sich einen aktuellen Überblick über das Case Management in der Beschäftigungsförderung verschaffen wollen Wie immer freuen wir uns über Rückmeldungen und Anregungen für kommende Auflagen. Rainer Göckler Matthias Rübner Aachen Mannheim
18 www.WALHALLA.de I I. Case Management und beschäftigungsorientiertes Fallmanagement 1.1 Definition, Entwicklung und Einordnung In der Literatur und Praxis zirkulieren zahlreiche Fachbegriffe, die mit dem Case Management in Verbindung stehen. So wird von Case Management, Fallmanagement, Care Management, Systemmanagement, Hilfeplanung und ähnlich aufgestellten Verfahren der Beratung, Betreuung und Begleitung von Menschen mit komplexen Unterstützungsbedarf gesprochen (für einen Überblick Monzer 2018; DGCC 2020a). Hier bedarf es einer Klärung, um zumindest für diese Publikation ein einheitliches Verständnis sicherzustellen (Abschnitt 1.2). Der hier im Mittelpunkt stehende Begriff „Fallmanagement in der Beschäftigungsförderung“ verweist auf eine eigene Historie, die mit einem kurzen Rückblick auf das gesetzgeberische Verfahren der Hartz-Reform aufgegriffen wird, um so das beschäftigungsorientierte Fallmanagement in seinen Entstehungskontext einzuordnen (Abschnitt 1.3). Abschließend geht es um den Versuch, den Ansatz des Case Managements aus der Perspektive der Beschäftigungsförderung und Arbeitsmarktorientierung noch einmal grundsätzlich einzuordnen (Abschnitt 1.4). 1.2 Begriffsklärungen Ausgehend von der Definition der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (DGCC 2020a, S. 2) lässt sich das Case Management „als eine bedarfsorientierte Steuerung (‚Management‘) einer Fallsituation (‚Case‘) zur Bewältigung einer personenbezogenen Problematik“ bezeichnen. Das Case Management ist dabei als ein Mehr-Ebenen-Konzept angelegt: „Unterschieden werden muss zwischen Case Management als methodischem Konzept auf der personalen Handlungsebene und Case Management als Organisations- oder Systemkonzept. Hier wie dort geht es um die wirksame Handhabung und Gestaltung von Prozessen.“ (Wendt 2018b, S. 14) ■ Auf der personalen Handlungsebene geht es um die Optimierung der Hilfe im konkreten Fall. Die Begriffe „Case“ oder „Fall“ stehen in diesem Zusammenhang nicht für den Menschen, sondern für seine problematische Situation, die es zu bewältigen gilt (Wendt 2018b, S. 16). Zentrales Kennzeichen für das methodische Konzept ist dabei das Phasen- modell, das den Prozess des Case Managements – vom Fallzugang bis zu seiner Beendigung – beschreibt (Kapitel 3). ■ Das Organisations- und Systemkonzept ist darauf gerichtet, die notwendigen Voraussetzungen für eine qualitativ hochwertige Fallarbeit zu schaffen und eine integrierte und bedarfsgerechte Versorgung im jeweiligen Zuständigkeitsbereich zu ermöglichen. Während sich das „Organisationskonzept“ mit der Aufbau- und Ablauforganisation einer Einrichtung sowie dem Qualitätsmanagement beschäftigt, bezieht sich
www.WALHALLA.de 19 1.2 Begriffsklärungen I das „Systemkonzept“ auf den Aufbau und die Pflege eines lokalen, regionalen, formellen und informellen Netzwerkes an Akteuren von Unterstützungs- und Leistungsangeboten (DGCC 2020a, S. 7). Wie bereits angedeutet sind diese Ebenen nicht voneinander isoliert zu betrachten. Es ist gerade die Verbindung dieser Ebenen, die den „zentralen Paradigmenwechsel“ bewirkt, wonach „alle Angebote im regionalen Versorgungsgefüge sowie die Case Managementtragende Organisation werden personenorientiert ausgerichtet“ (ebd., S. 6). In diesem Sinne wird mit „Case Management“ der Gesamtansatz im humandienstlichen Bereich bezeichnet und von einer „vollständigen Implementation“ gesprochen, wenn alle Ebenen in der Praxis handlungswirksam umgesetzt werden (Löcherbach 2017, S. 275 f.; Monzer 2018, S. 55). Wie steht die deutsche Bezeichnung „Fallmanagement“ zu diesem umfassenden Verständnis von Case Management? Hierzu gibt es im Wesent- lichen zwei Lesarten. Die erste Lesart stellt darauf ab, dass die Bezeichnung „Fallmanagement“ vor allem im Zusammenhang mit der Einführung der Hartz-Gesetzgebung Einzug in den deutschen Sprachraum gefunden hat, sodass deren Verwendung bis heute häufig mit diesem spezifischen An- wendungsfeld assoziiert wird (Fallmanagement = beschäftigungsorientiertes Fallmanagement). In früheren Publikationen wurde diese Form des Fallmanagements nicht selten als integraler Bestandteil einer einseitigen Aktivierungspolitik verstanden und kritisiert (z. B. Neufer 2013; Roscher 2013). In der zweiten Lesart wird die Bezeichnung „Fallmanagement“ als deutsche Übersetzung des Begriffs „Case Management“ aufgefasst und zwar unter der Voraussetzung, dass die gerade beschriebenen Ebenen und Merkmale Gegenstand des jeweiligen Umsetzungskonzepts sind (Monzer 2018, S. 53 ff.). In diese Richtung gehen auch die Überlegungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (2004, S. 1), der als Erster konsequent auf die Einführung des Fallmanagements in der Grund- sicherung reagiert und eine Empfehlung für Qualitätsstandards für das Fallmanagement herausgegeben hat. Dort heißt es zu Beginn: „Vor dem Hintergrund wissenschaftlich evaluierter Erfahrungen aus den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik (u. a. Projekte des Landes NRW seit 1999) sind große Parallelen zwischen dem in der Gesetzesbegründung zum § 14 SGB II erwähnten ‚Fallmanagement‘ und dem Konzept des ‚Case Managements‘ festzustellen. Deshalb kann die inhaltliche Bestimmung des Begriffes ‚Fallmanagement‘ an folgende Definition der ‚Case Management Society of America‘ anschließen: ‚Case Management ist ein kooperativer Prozess, in dem Versorgungsangebote und Dienstleistungen erhoben, geplant, implementiert, koordiniert, überwacht und evaluiert werden, um so den individuellen Versorgungsbedarf eines Klienten mittels Kommunikation und verfügbarer Ressourcen abzudecken.‘“ Dieser Lesart folgt auch die vorliegende Publikation, sodass die Bezeichnungen „Fallmanagement“ und „Case Management“ weitgehend synonym verwendet werden können. Das Mehr-Ebenen-Konzept und die daraus ableitbaren Qualitätsansprüche (DGCC 2020a) sind damit zentraler Bezugspunkt und Anspruch für dieses Buch.
20 www.WALHALLA.de I I. Case Management und beschäftigungsorientiertes Fallmanagement 1.2.1 Schnittmengen und Abgrenzungen zu verwandten Dienstleistungsbegriffen Care Management Die Bezeichnung Care Management (Care = Sorge/Schutz) bezieht sich allgemein auf die Strukturentwicklung und Vernetzung von Versorgungsangeboten. Es hebt auf die Gestaltung personenunabhängiger Sorgestrukturen im regionalen Versorgungsgefüge ab und kann dabei sowohl professionelle als auch informelle Hilfeformen umfassen (DGCC 2020a, S. 4; vgl. Kapitel 3.5). Im Verständnis der DGCC stellt das Care Management eine Voraussetzung für das Case Management dar und ist damit integraler Bestandteil des Gesamtansatzes (ebd., S. 4). Davon abzugrenzen ist eine – zuweilen im Gesundheitsbereich anzutreffende – Form der Implementation eines Care Managements, das allein vom Versorgungssystem aus denkt und darauf ausgerichtet ist, optimale und wirtschaftliche Versorgungsnetze zu entwickeln, ohne dies mit einem Case Management auf der Einzelfall- ebene zu verknüpfen (vgl. Schaeffer 2000, S. 17 f.). Schnittmengen gibt es im britischen Gesundheitssystem (Crossland 2015), wo das Care Management auch im Einzelfall „gesundheitliche Unterstützungspakete“ schnürt. Disease Management Disease Management versteht sich als auf chronische Erkrankungsformen ausgerichtetes strukturiertes Behandlungsprogramm, das die Betroffenen dabei unterstützt, ihre Erkrankung zu stabilisieren oder zu verbessern, um so die Lebensqualität zu erhalten. Man spricht auch von „Chronikerprogrammen“. Derartige Programme gibt es z. B. bei asthmatischen Leiden, verschiedenen Krebserkrankungen, Diabetes oder chronischen Herzkrankheiten. Den Begriff Disease Management finden wir nahezu ausschließlich im Gesundheitsbereich. Einzelfallhilfe/Casework Im Mittelpunkt der Einzelfallhilfe steht der soziale Unterstützungsfall als Einzelperson oder Familie/Lebensgemeinschaft. In der modernen Erweiterung prägen vor allem systemische Beratungsansätze das Bild der Einzelfallhilfe, die – je nach Einsatzfeld – in sehr großer Intensität mit belasteten Menschen oder familiären Systemen arbeiten (Galuske 2013). Ein zentraler Unterschied liegt also in der Tiefendimension der Begleitung, die im klassischen Casework stärker ausgeprägt ist als im Case Management. Die klassische Methode der Einzelfallhilfe in der Sozialen Arbeit besteht aus den drei Schritten Anamnese, Diagnose und Hilfeplan. Für Belardi (2010, S. 62) sind die „Grenzen zwischen Casework, Case-Management, Familienhilfe und Familienberatung oder Familientherapie“ fließend geworden. Er betont, dass der Unterschied zwischen Casework und Case Management insbesondere in der Koordination der unterschiedlichen Hilfesysteme zu finden ist, während es im „klassischen Casework vorwiegend um Gesprächsführung, Beratung, Unterstützung sowie die Anwendung von Rechts-
www.WALHALLA.de 21 1.2 Begriffsklärungen I kenntnissen und Vermittlung von Hilfequellen“ (ebd. S. 64) geht. Casework kennt somit weniger die steuernde Funktion der Vernetzung unterschiedlicher Hilfeleistungen sowie die strukturelle Vernetzung mit einem übergreifenden Planungsansatz. Auch in den Hilfeplanverfahren, wie wir sie teils unter verschiedenen Bezeichnungen etwa im SGB VIII, SGB IX und SGB XII kennen, ist die Gesamtverantwortung für den Hilfeprozess, das heißt einschließlich der Qualitätskontrolle der beteiligten Partner in den Einzelmaßnahmen, nicht so weitgehend ausgeprägt wie im Case Management. Auf die Schnittmengen und Abgrenzungen zur „ganzheitlichen Betreuung“ nach § 16k SGB II gehen wir noch gesondert ein (vgl. Kapitel 3.5.4). Entlass- und Übergangsmanagement Übergangsmanagement bezeichnet strukturierte Unterstützungs- und Begleitprozesse von stationären bzw. geschlossenen Systemen in offenere Systeme oder die Selbstverantwortung der persönlichen Lebensführung, oft auch als Entlassmanagement bezeichnet. Es geht häufig mit einem Wechsel der Kostenträgerschaft einher. Krankenhäuser, Reha-Kliniken und Suchteinrichtungen betreiben ein Entlassmanagement ebenso wie Justizvollzugsanstalten, Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, psychiatrische Einrichtungen oder Berufsbildungswerke. Zentrales Merkmal ist einerseits, dass Betroffene eine mehr oder minder lange Zeit fremdbestimmter lebten und/oder während eines längeren stationären Aufenthalts grundlegende Veränderungen (Behinderungen, Belastungen, Krankheitsbilder etc.) in der Alltagsgestaltung eingetreten sind, deren Bewältigung einen deutlichen Unterstützungsbedarf aufzeigt. Etwas außerhalb dieses Verständnisses liegt der Begriff des Übergangs- managements bei Jugendlichen an der ersten Schwelle zum Ausbildungs- oder Arbeitsmark. Hier werden ebenfalls strukturierte Begleitprozesse als Übergangsmanagement bezeichnet. Nahezu immer geht es darum, den Wechsel einschneidender Veränderungen in der Lebensführung von Menschen intern vorzubereiten, extern zu vernetzen und in der Umbruchphase engmaschig zu begleiten (dazu ausführlich Kapitel 5.2). Die Parallelen zum Case Management sind gut erkennbar, wenngleich das Übergangsmanagement zeitlich enger zu fassen ist und auf eine umfassendere Erhebung der Bedarfsstrukturen verzichtet. Ziel bleibt es, die Ankommensbedingungen im „neuen Leben“ so zu gestalten, dass Rückfälle und Neuerkrankungen durch Vereinsamung, fehlende Grundbedingungen (Wohnung, Lebensunterhalt, Arbeit) und Undurchsichtigkeit des Hilfesystems vermieden werden. 1.2.2 Zum beschäftigungsorientierten Fallmanagement Das beschäftigungsorientierte Fallmanagement ist als eine handlungsfeldspezifische Variante des allgemeinen Case Managements aufzufassen, so wie das für zahlreiche andere Varianten des Case Managements gilt (z. B. in
22 www.WALHALLA.de I I. Case Management und beschäftigungsorientiertes Fallmanagement der Pflege, im Krankenhaus oder in der Bewährungshilfe). Im Jahr 2009 hat sich unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (DGCC) eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit Fragen des Case Managements im Einsatzfeld von Beschäftigungsförderung und Arbeitsmarktintegration auseinandersetzt. Hierzu wurden drei zentrale Bezugspunkte für das Verständnis von beschäftigungsorientiertem Fall- management aufgestellt (Fachgruppe Arbeitsmarktintegration o. J.): „(1) Beschäftigungsorientiertes Case Management (BCM) unterstützt bei der Bewältigung schwieriger Lebenslagen mit komplexem Hilfebedarf im Fall fehlender oder bedrohter Beschäftigung. Das Ziel ist eine möglichst existenz- sichernde Teilhabe am Arbeitsleben. In enger Abstimmung mit den Klientinnen und Klienten fördert es den Erhalt oder die Herstellung von Beschäftigungs- fähigkeit unter Berücksichtigung der individuellen Lebenssituation. (2) BCM bewegt sich im Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen und den Ressourcen der Klientinnen und Klienten, den Möglichkeiten und Anforderungen des Arbeitsmarkts sowie des gesellschaftlichen Kontextes und den gegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen. Die Herausforderung des beschäftigungs- orientierten Fallmanagements liegt darin, in diesem Spannungsfeld einen für alle Seiten (Klientinnen und Klienten – Wirtschaft – Staat) akzeptablen Ausgleich zu finden. (3) BCM basiert auf einem wissenschaftsorientierten Verständnis von Case Management im Sinne der Leitlinien der DGCC.“ Der Terminus „Beschäftigungsfähigkeit“ wird dabei als intervenierende Begrifflichkeit zwischen dem Potenzial von Personen, ein Beschäftigungsverhältnis einzugehen, aufrechtzuerhalten oder zu wechseln, und von korrespondierenden betrieblich-organisatorischen und institutionellen Regelungen verstanden. Damit wird eine einseitige Verschiebung im Fokus auf individuelle Anpassungsmechanismen verhindert, was dem Grundgedanken des Case Managements, auf verschiedenen Ebenen zu agieren, entspricht. Einen Perspektivwechsel bietet zudem das Konzept „Arbeitsvermögen“, auf das wir im Kapitel 3.2.3 als Exkurs und Methodeninformation genauer eingehen. Anknüpfend an diese Ausführungen erscheint es sinnvoll, die internen Abgrenzungskriterien zu den Funktionen Arbeitsvermittlung und Leistungsgewährung zu klären. Die zentralen Unterschiede zwischen den jeweiligen Aufgabenstellungen innerhalb der Jobcenter werden in Tabelle 1 auf idealtypische Weise zusammengefasst. Das beschäftigungsorientierte Fallmanagement weist dabei im Gegensatz zum Idealtypus eines sich rein als steuernde Aufgabe verstehenden generellen Case Managements (DGCC 2020a, S. 3) einige Unterschiede auf, insbesondere die Übernahme von spezifischen Beratungs- und Vermittlungsleistungen während der Durchführungsphase (vgl. Kapitel 3.4.4.).
www.WALHALLA.de 23 1.2 Begriffsklärungen I Tabelle 1: Zur Unterschiedlichkeit von Arbeitsvermittlung, Leistungssachbearbeitung und Fallmanagement Ausbildungs- und Arbeitsvermittlung ■ Mehrheitlich un- bestimmte Rechts- begriffe als gesetz- licher Orientierungsrahmen ■ Mitwirkung nur über Kooperation erreichbar ■ Grenzen der Überprüfbarkeit vieler Angaben/ Mehrdeutigkeit von Angaben ■ Arbeitsmarktbezogene Kooperation und Vernetzung im Zentrum ■ Lernen/Fortbil- dung in offenen Systemen/unklare Kontexte ■ Handeln nach Ver- ittlungsstandards ■ Wirtschaft/Recht/ Psychologie/ Soziologie/ Pädagogik/ Beratungswissenschaft … Fallmanagement ■ Kaum gesetzliche Rahmenvorschriften/FM keine ge- setzliche Aufgabe ■ Mitwirkung nur über Kooperation erreichbar ■ Grenzen der Überprüfbarkeit vieler Angaben/ Mehrdeutigkeit von Angaben ■ Soziale und arbeits- marktbezogene Kooperationsvielfalt/Vernetzung ■ Systematische Identifizierung von Fehlallokationen im Netzwerk/ fehlende Angebote ■ Verzahnung mit kommunaler Sozialpolitik/ Systemsteuerung ■ Lernen/Fortbildung in offenen Systemen/unklare Kontexte ■ Handeln nach Standards des CM ■ Multidisziplinarität: Wirtschaft/Recht/ Psychologie/ Soziologie/ Pädagogik/Soziale Arbeit/Medizin/ Beratungswissenschaft Leistungsgewährung ■ Regelungsklarheit bei teilweise hochkomplexen Regelungsinhalten ■ Mitwirkungsregelungen normiert und durchsetzbar ■ Angabe- und Nachweispflichten geregelt ■ Geringere Koope- rationsnotwendigkeit ■ Lernen/Fortbildung in einem klar strukturierten Kontext (Rechtsanwendung) ■ Beteiligung an verwaltungs- vereinfachender Administration ■ Verständlichkeit rechtsadministra- tiver Regelungen ■ (Sozial-)Recht als dominanter Wissenschafts- bezug Quelle: eigene Darstellung
24 www.WALHALLA.de I I. Case Management und beschäftigungsorientiertes Fallmanagement Zusammenfassend liegt das Verständnis zum Begriff des „beschäftigungsorientierten Fallmanagements“ für diese Publikation darin, den genuinen Auftrag aus der Gesetzesbegründung umzusetzen, ihn gleichzeitig aber auch immer wieder kritisch zu reflektieren: „Die Agentur für Arbeit hat alle Einflussfaktoren für die berufliche Eingliederung zu berücksichtigen und alle erforderliche Unterstützung zu geben, die sich mit den Grundsätzen der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit vereinbaren lässt. Hierzu gehört bei Bedarf auch die intensive Betreuung. Die Zuordnung nach Möglichkeit nur eines Ansprechpartners soll ein kompetentes Fallmanagement sicherstellen, ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Erwerbsfähigen und dem Mitarbeiter der Agentur für Arbeit fördern und der Effizienz der Betreuung des Erwerbsfähigen dienen“ (Deutscher Bundestag 2003, S. 58). Kritisch reflektieren und begleitend meint hier unter anderem, dass nicht einer Engführung des SGB II durch einseitige aktivierungspolitische Auslegungen gefolgt wird. Wichtige Bezugspunkte ergeben sich aus dem grundlegenden und weit auszulegenden Auftrag des § 1 Abs. 1 SGB II (Ermöglichung, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht), aus Fachdiskursen und professionsethischen Standards, so wie sie im Rahmen der Begriffsklärung bereits angedeutet worden sind und in den Folgekapiteln vertieft werden. 1.3 Historische Rückblenden und Entwicklungslinien 1.3.1 Übergreifende Entwicklungslinien des Case Managements Erste Ansätze von Case Management finden sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts in der sozialen Gemeinwesenarbeit. Die OECD weist 1935 für Schweden bereits Case Management-ähnliche Strukturen in der Förderung und Betreuung arbeitsloser Menschen nach (vgl. Poetzsch 2007), in den USA findet sich 1942 der Begriff erstmals im Kontext der beruflichen Rehabilitation von Unfallversicherungsträgern. Geht man den neueren Spuren des Case Managements nach, so wurden handlungsleitende Orientierungen in den 60er Jahren in den Vereinigten Staaten gelegt. Dort identifiziert Klug (2018, S. 43 ff., in Anlehnung an Moxley 1989) sechs zentrale Entwicklungen, die Einfluss auf das Case Management in den USA nahmen: 1. Die Enthospitalisierung, das heißt die oft zwangsweise Freisetzung von Nutzenden großer Einrichtungen, wie geistig behinderter Menschen, psychisch Erkrankter oder Suchtkranker, alter Menschen, und ihre wohnortnahe Unterbringung mit dem Ziel größerer Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit. Studien konnten zeigen, dass Menschen, nachdem sie eine Zeit lang diese Einrichtungen bewohnten, ihre Selbstständigkeit und den Wunsch nach Autonomie einbüßten. In den USA wurden daraufhin zahlreiche Einrichtungen geschlossen und die ehemaligen Bewohnenden in ihre familiären und lokalen Räume zurückgeschickt. Ein lokales Case Management sollte dann dafür sorgen, dass sich vor Ort Unterstützungsstrukturen etablieren konnten.
www.WALHALLA.de 25 1.3 Historische Rückblenden und Entwicklungslinien I 2. Neben den Auswirkungen auf die Individuen zeigte sich in den USA eine wirtschafts- und sozialpolitisch gewollte Privatisierung, mit der Folge der Dezentralisierung von Diensten und eine Vermarktwirtschaftlichung der entsprechenden Angebotsstrukturen. 3. Zugleich häuften sich die Belege für eine Zunahme komplexer Belastungen bei vielen Zielgruppen, die das Erfordernis der Koordinierung unterschiedlicher Dienstleistungen unterstrichen, eine der zentralen Aufgaben im Case Management. 4. Die Ausidifferenzierung der Angebote für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf, die die verschiedenen Logiken der Institutionen nicht mehr durchschauten und denen es zunehmend schwerfiel, die passenden Angebote zu identifizieren, war ein weiteres Merkmal, das die Etablierung von Case Management begleitete. Diese Ausdifferenzierung steht auch im Zusammenhang mit der 5. zunehmenden Vereinsamung, dem Fehlen sozialer Netze, wie es in den gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne zu identifizieren ist (Stichwort: Brüchigkeit der Familiensysteme, Individualisierung, Digitalisierung usw.) und die Lebensführung vieler Menschen so erschwert, dass sie der Hilfe durch spezialisierte Sozialdienste bedürfen. 6. Letztendlich waren auch in den USA die kontinuierlich steigenden Ausgaben in den Sozial- und Gesundheitsetats (Kostenexplosion) für die sozialen und gesundheitlichen Dienste dafür verantwortlich, die stärkere Fokussierung auf Wirkung zu befördern, die im Case Management-Ansatz dem Grunde nach angelegt ist. Es lag nahe, die praktizierten Ansätze auch auf andere Felder sozialer und gesundheitsbezogener Dienstleistungen auszudehnen: die Altenpflege und -versorgung, die Behindertenbetreuung, die psychosoziale Begleitung, die Kinder- und Jugendhilfe, die Suchtberatung, die Psychiatrie oder Bewährungs- und Straffälligenhilfe. Da in vielen Fällen, insbesondere bei noch grundsätzlich erwerbsfähigen Menschen, auch die Frage der kurz-, mittel- oder längerfristigen Integration in den Arbeitsmarkt zu klären war, enthielten diese Betreuungsformen immer häufiger auch Anteile der Beschäftigungsförderung (zum Überblick vgl. Wendt 2017, 2018a). Nicht zuletzt trug auch die sich entwickelnde Dualität am Arbeitsmarkt zwischen gesicherten und prekären Beschäftigungen dazu bei, Case Management im Handlungsfeld der Arbeitsmarktpolitik einzuführen. Armut und Arbeitsplatzunsicherheit sind, so der einheitliche Forschungsstand, immer auch Treiber für viele nachfolgende Belastungen, die dann gesundheitliche und soziale Dienstleistungen nach sich ziehen, gerade innerhalb von Armutsverhältnissen. 1.3.2 Entwicklungslinien des beschäftigungsorientierten Fallmanagements In der Bundesrepublik Deutschland finden wir frühe Hinweise auf die Entwicklung des Case Managements im Sektor der beruflichen Rehabilitation wie auch in den kommunalen Sozialämtern, etwa die sozialhilferechtliche
26 www.WALHALLA.de I I. Case Management und beschäftigungsorientiertes Fallmanagement Ausstiegsberatung (vgl. Burmann/Sellin/Trube 2000), die strukturierte Reha-Gesamtplanung oder die nordrhein-westfälischen Versuche zur Gründung von Sozialbüros (vgl. MASQT NW 2000). Alle diese Versuche zeigen, dass die Zeit reif war für neue Ansätze, auch in den Verwaltungen. Für die Entwicklung des beschäftigungsorientierten Fallmanagements waren in der Bundesrepublik drei Ereignisse von besonderer Bedeutung: 1. Noch in der Schlussphase der Bundesregierung von Helmut Kohl gab es erste Überlegungen zu einer einheitlichen Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Die rot-grüne Bundesregierung von Gerhard Schröder verabschiedete im Jahr 2000 das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe und finanzierte Modellprojekte, in denen die Träger unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit erproben sollten. Im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung heißt es zum Fallmanagement: „Als besonders wirkungsvoll und effizient haben sich die Projekte erwiesen, die ihren Betreuungsprozess durch die Einrichtung gemeinsamer An- laufstellen in einem der Ämter oder als eigenständige Agentur außerhalb, durch gemeinsames Fallmanagement und durch den gemein- samen Einsatz von Förder- und Vermittlungsinstrumenten eng verzahnt haben“ (Hess et al. 2004, S. 168). Bedeutsam war dabei die „zentrale Funktion von Fallmanagement als Mittel der Prozesssteuerung. Dahinter steht ein ganzheitlicher Betreuungs- und Vermittlungsansatz, der den Handlungsbedarf an der konkreten Ausgangssituation und dem Bedarf des Einzelfalles festmacht. Vermittlung der Zielgruppe ‚Hilfebedürftige‘ kann sich diesem Verständnis zufolge nicht auf einen Matchingprozess von beruflicher Qualifikation und offenen Stellen beschränken“ (ebd., S. 189). 2. Noch vor einer endgültigen Bewertung der Modellversuche beauftragte die Bundesregierung am 22.02.2002 insgesamt 15 Mitglieder einer Kommission um den damaligen Personalvorstand bei Volks- wagen, Peter Hartz, ein Reformkonzept für den Arbeitsmarkt vor- zulegen, mit dem die Krise des bundesrepublikanischen Arbeitsmarkts erfolgreich beendet werden sollte. Der politische Druck anstehender Wahlen, die unbefriedigende Arbeitsmarktsituation insbesondere bei der Langzeitarbeitslosigkeit („Kranker Mann Europas“), internationale Einflüsse und eine durchaus einflussreiche Lobby wirtschaftsnaher Verbände (z. B. die Bertelsmann Stiftung), beschleunigten seinerzeit die Entwicklungen. Im Bericht der Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (2002), der die Grundlage für zahlreiche Reformvorhaben und Gesetzesänderungen in der Folgezeit war, taucht für eine breitere Öffentlichkeit wahrnehmbar auch erstmals der Begriff des Fallmanagements im Zusammenhang mit den zu bildenden Jobcentern auf. Die Aufgabe dieser Fachkräfte sollte darin bestehen, in einem „Job-Center“, welches für alle individuellen und strukturellen Probleme des
www.WALHALLA.de 27 1.3 Historische Rückblenden und Entwicklungslinien I Arbeitsmarkts als einheitliche lokale Anlaufstelle fungieren sollte, Leistungsempfänger mit weitergehendem Bedarf (Betreuungskunden) zu beraten und zu betreuen. Wörtlich wurde das „Fallmanagement“ so beschrieben: „Kunden mit weitergehendem Beratungs- und Betreuungsbedarf (Betreuungskunden) werden einem Fallmanager zugeordnet. Er steuert die Gesamtheit des im individuellen Falle erforderlichen Dienstleistungsangebotes des JobCenters. Der Fallmanager hat weitreichende Entscheidungsbefugnisse. Er erstellt oder veranlasst das Tiefenprofiling, auf dessen Basis das weitere Vorgehen mit dem Kunden verbindlich vereinbart wird (Eingliederungsvereinbarung). Insbesondere organisiert der Fallmanager die erforderlichen Maßnahmen zur Abklärung und Förderung der Integrationsfähigkeit in Abstimmung mit den Vermittlern, weiteren Fachkräften des JobCenter und der PSA. Der Fallmanager konzentriert sich ausschließlich auf die Arbeitslosen. Er übernimmt somit einen Teil der Aufgaben früherer Vermittler im Arbeitsamt. Das Casemanagement kann an Dritte vergeben werden“ (ebd., S. 74). #DNCWH KO ,QD%GPVGT $GVTGWWPI #TDGKVU CPIGDQV #TDGKVUPCEJHTCIG (WPMVKQPU\WUVÀPFKIMGKVGP \YKUEJGP (CNNOCPCIGOGPV WPF 8GTOKVVNWPI KO -QOOKUUKQPUDGTKEJV /QFGTPG &KGPUVNGKUVWPIGP CO #TDGKVUOCTMV 5WEJVDGTCVWPI ,WIGPFCOV 5Q\KCNCOV 9QJPWPIUCOV 5EJWNFPGTDGTCVWPI 2U[EJQNQIKUEJGT &KGPUV $GTWHUDGTCVGT T\VNKEJGT &KGPUV 4GJC $GTCVGT .GKUVWPIUDGTCVGT %NGCTKPIUVGNNG 25# 5GNDUVDGFKGPWPI 7PVGTPGJOGP 5GNDUVKPHQTOCVKQP (CNNOCPCIGT $GTCVWPI WPF 8GTOKVVNWPI 8GTOKVVNGT Abbildung 1 – Quelle: Kommissionsbericht 2002, S. 73
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