BTHG-Umsetzung Eingliederungshilfe im SGB IX

BTHG-Umsetzung Eingliederungshilfe im SGB IX Ein Praxishandbuch DNWXDOLVLHUWH $Xʴ DJH

Das neue Recht verstehen, anwenden und nutzen! Die Eingliederungshilfe wurde durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) in weiten Teilen als eigenständiges Leistungsrecht im zweiten Teil des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) neu geregelt. Das Autor*innen-Team vermittelt anschaulich und klar verständlich, was dies in der Praxis für die einzelnen Leistungsbereiche bedeutet. Die Arbeitshilfe bietet Orientierung • zum leistungsberechtigten Personenkreis, • zu Partizipationsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen, • zu den Aufgaben und Leistungen der Eingliederungshilfe, • zum Teilhabe- und Gesamtplanverfahren. Erläutert werden zudem • die Einkommens- und Vermögensregelungen, • das Leistungs- und Vertragsrecht, • die Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen. Ein Praxishandbuch für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen, für Mitarbeitende bei Leistungsträgern und Leistungserbringern sowie für alle, die ausführend mit dem BTHG bzw. dem neuen Eingliederungshilferecht arbeiten oder dazu beraten. Erstellt von Praktiker*innen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Bayern, die in der Eingliederungshilfe tätig sind. Zusatznutzen: Mit dem aktuellen Wortlaut des SGB IX Teil 1 und Teil 2 im herausnehmbaren Begleitheft (Stand: 1. Januar 2024) – die Änderungen durch das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts sind berücksichtigt! ISBN 978-3-8029-7349-9 € 29,95 [D] www.WALHALLA.de • AKTUELL • PRAXISGERECHT • VERSTÄNDLICH WISSEN FÜR DIE PRAXIS

Vorwort 9 www.WALHALLA.de Vorwort Eigentlich hätte allein schon mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2009 ein Ruck durch Deutschland gehen müssen, eine Aufbruchsstimmung in Richtung Paradigmenwechsel im Umgang mit Menschen mit Behinderung, beseelt vom Interesse der Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung, und zwar gesellschaftlich, fachlich/institutionell, (sozialhilfe-)rechtlich. So zumindest hätten wir uns das vorgestellt. Doch statt die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und mit Tatkraft in einen Modus des proaktiven Gestaltens zu wechseln, begegnete uns nicht selten eine Haltung des Abwartens, ein „Das geht schon wieder vorbei!“. Das zumindest glauben wir wahrgenommen zu haben in den Anfängen des Inklusionsdiskurses. Und mal ganz ehrlich: So wirklich weit sind wir nach unserem Dafürhalten noch nicht gekommen. Wohl nicht ohne Grund wandte sich der UN-Menschenrechtsausschuss 2015 an die Bundesrepublik Deutschland und „empfahl“ u. a. ▪▪ die gesetzliche Definition von Behinderung mit der UN-Behindertenrechtskonvention in Einklang zu bringen, ▪▪ das selbstbestimmte Leben von Menschen mit Behinderung zu fördern und Voraussetzungen zu schaffen für einen inklusiven Arbeitsmarkt, ▪▪ Menschen mit Behinderung soziale Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, die ihnen Inklusion, Selbstbestimmung und die persönliche Entscheidung ermöglichen, in der Gemeinschaft leben zu wollen und insofern für Deinstitutionalisierung zu sorgen. Der Gesetzgeber hat aus alldem schließlich das „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen“ – kurz: Bundesteilhabegesetz (BTHG) – gemacht, das Ende 2016 verabschiedet wurde. Wie bei jedem Gesetz, so wird sich der Gesetzgeber auch in diesem Fall fragen lassen müssen, ob durch das Gesetz die intendierte Wirkung erreicht werden wird. Handelt es sich im Falle des Bundesteilhabegesetzes um den ganz großen Wurf? Schafft das Bundesteilhabegesetz die Rahmenbedingung für einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel? Oder war das schon von Beginn an nicht wirk-

Vorwort 10 www.WALHALLA.de lich gewollt? Es ist Skepsis erlaubt, denn wer ein Mehr an Teilhabe möchte, wer aber gleichzeitig erreichen will, dass dieses Mehr nicht mehr bzw. weniger kosten soll, der erstickt die Innovation in einer Art hausgemachtem Dilemma und füllt letztlich alten Wein in geflickte Schläuche. Die tägliche Praxis wird zeigen, ob das Bundesteilhabegesetz den hohen Ansprüchen der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht werden wird. Ist das Gesetz tatsächlich geeignet, damit sich die bisherige Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickelt? Wird es gelingen, dass die individuellen und persönlichen Wünsche zur Lebensplanung und -gestaltung der Menschen tatsächlich gewürdigt werden, und werden die notwendigen Verfahren so ausgestaltet sein, dass sich Leistungen ermitteln lassen, die schließlich nicht mehr institutionszentriert, sondern personenbezogen bereitgestellt werden? Wird die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung so ausgestaltet, dass diese tatsächlich zur Stärkung der Menschen mit Behinderung führt, den Rehabilitationsträgern und Leistungserbringern gegenüber? Bisher zeigen sich keine wirksamen Anreize, die dazu führen, dass verstärkt Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angestrebt und angeboten werden. Mit diesem Praxishandbuch leistet der PARITÄTISCHE einen aktiven Beitrag dazu, dass trotz oder gerade wegen der Vorzeichen, unter denen das Bundesteilhabegesetz entstanden ist und steht, der Umgang mit diesem Gesetz bestmöglich gelingt. Ein ganz herzlicher Dank gilt dabei den Autor*innen, denen aus der Perspektive ihrer fundierten Expertise heraus ein Handbuch für die Praxis gelungen ist. Es gibt alltagspraktische Hilfestellungen und zwar sowohl für die Menschen mit Eingliederungsbedarf selbst, als auch für ihre Angehörigen und Nahestehenden und für die Profis, die diese in den Einrichtungen und Beratungsstellen begleiten. Nicht von ungefähr geben wir als PARITÄTISCHER dieses Handbuch zum Bundesteilhabegesetz heraus. Als Wohlfahrtsverband leben wir gemeinsam mit unseren Mitgliedsorganisationen die für eine gelingende Inklusion notwendige Vielfalt, Offenheit und Toleranz. Wir vereinen unter unserem Dach die Leistungserbringer der Eingliederungshilfe ebenso wie die Träger der Selbsthilfe und die Organisationen der Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen, von Psychiatrieerfahrenen und von Angehörigen psychisch kranker Menschen.

Vorwort 11 www.WALHALLA.de Als PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband werden wir uns auch in Zukunft aktiv dafür stark machen, dass die Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wird. Nicht zuletzt deshalb wachen wir sehr genau über die Umsetzung des Gesetzes und darüber, was das BTHG im Alltag bedeutet für die Menschen und für die Leistungserbringer in der Eingliederungshilfe. Wir freuen uns sehr, dass wir Verena Bentele für ein Zwischenfazit zur Umsetzung des BTHG aus der Sicht der Menschen mit Behinderung für diese 3., aktualisierte Auflage gewinnen konnten. Ihr Beitrag folgt im Anschluss an dieses Vorwort. Norbert Blesch Verbandratsvorsitzender PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband, Landesverband Bayern Karin Majewski Geschäftsführerin Bezirksverband Oberbayern PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband, Landesverband Bayern Foto: © blende 11 Fotografen, München

Vorwort 12 www.WALHALLA.de Die Umsetzung des BTHG aus Sicht der Menschen mit Behinderung – ein Zwischenfazit Im Juli 2014 fand das erste Treffen der „Arbeitsgruppe Bundesteilhabegesetz“ statt. Getreu dem Motto „Nichts über uns ohne uns“ wurden die Verbände und Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderung früh in den Prozess zur Entwicklung eines neuen Leistungsgesetzes eingebunden. Zusammen mit Vertreter*innen der Wohlfahrtsverbände, der Bundesministerien, der Landes- und Kommunalpolitik sowie der Rehabilitationsträger formulierten die Mitglieder der Arbeitsgruppe als zentrales Ziel des neuen Gesetzes, die „Selbstbestimmung und individuelle Lebensplanung“ von Menschen mit Behinderung vollumfänglich zu unterstützen. Nun, ein Jahrzehnt später, ist das Bundesteilhabegesetz einige Zeit in Kraft und drei der vier geplanten Reformstufen wurden bereits umgesetzt. Ich gebe zu: Als ich in meiner damaligen Rolle als Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen an den AG Sitzungen teilgenommen habe, war ich voller Zuversicht. Wie viele andere auch habe ich an das Ziel geglaubt, die UN-Behindertenrechtskonvention durch das BTHG in Deutschland rechtlich festzuhalten und in der Praxis umzusetzen. Heute, als Präsidentin des VdK, dem größten deutschen Sozialverband mit über 2,2 Millionen Mitgliedern, betrachte ich das Gesetz und seine Umsetzung mit kritischem Blick. Wie wird das BTHG von den Betroffenen, die wir gegenüber den Leistungsträgern und den Sozialgerichten vertreten, wahrgenommen? Vorweg: Ich bin genau wie im Jahr 2014 überzeugt davon, dass der Weg bis zur Verabschiedung des Gesetzes ein wichtiger Prozess war. Vor allem wegen der Einbeziehung aller Beteiligten. Nicht zuletzt waren die vielen Diskussionen und der Austausch von Positionen ein Gewinn. Vor allem bin ich aber heute, wie zu Beginn des Prozesses, überzeugt, dass es weitere Maßnahmen braucht, um echte Teilhabe und volle Selbstbestimmung zu verwirklichen. Aus den Aussagen unserer Mitglieder in unserer Rechtsberatung lässt sich ein – wohlgemerkt frühes – Meinungsbild wiedergeben. Um zu verdeutlichen, wie Menschen mit Behinderung die bisherige Umsetzung des BTHG beurteilen, möchte ich drei zentrale Versprechen des Gesetzes herausgreifen und knapp deren Umsetzung beleuchten: das Ziel der Selbstbestimmung, die Ermittlung von

Vorwort 13 www.WALHALLA.de Teilhabeleistungen „wie aus einer Hand“ sowie die Herauslösung der Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe. Selbstbestimmung „Selbstbestimmt Leben“ lautete bereits in den 1960er Jahren die Parole der ersten Selbsthilfebewegungen. Das BTHG will die Idee der Selbstbestimmung unter anderem durch die unabhängige Teilhabeberatung, die vor allem auch durch Menschen mit Behinderung erbracht wird, zum Leben erwecken. Die Entfristung der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungsstellen ist ein positives Signal zur Stärkung der Selbstbestimmung. Auch verschiedene Assistenzleistungen und die freie Wahl der Wohnform tragen dazu bei. Menschen mit Behinderung sollten selbst entscheiden dürfen, ob sie in einer besonderen Wohnform zusammen mit anderen Personen, in einer WG oder in der eigenen Wohnung leben möchten. Dass die Eingliederungshilfeleistungen nun unabhängig der Wohnform gewährt werden, ist ein Erfolg. Allerdings stehen die Betroffenen vor zwei Hürden, und diese nennen sich „Angemessenheit“ und „Zumutbarkeit“. Laut Gesetz müssen die Wünsche der Leistungsberechtigten nur erfüllt werden, wenn sie angemessen sind und eine andere (vermutlich günstigere) Lösung nicht zumutbar ist. Die Frage der Selbstbestimmung darf allerdings nicht vom Geldbeutel und guten Willen der Kostenträger abhängen. Es ist unbefriedigend, wenn nach jahrelangem Rechtsstreit am Ende gegebenenfalls die Gerichte entscheiden müssen. Und dass viele Leistungen erst auf dem Rechtsweg zugebilligt werden, erleben wir viel zu oft in der täglichen Praxis. Ermittlung von Teilhabeleistungen „wie aus einer Hand“ Das neue Teilhabeplanverfahren verspricht Menschen mit Behinderung die Leistungserbringung „wie aus einer Hand“. Das bedeutet, dass ich nicht mehr bei verschiedenen Ämtern und Kassen Anträge stellen muss, sondern ein einzelner Antrag genügt, um meine Leistungen zu erhalten. Soweit die Theorie. In der Praxis muss sich dieser Ablauf noch immer einpendeln. Bis die Zuständigkeiten geklärt und Leistungen gewährt werden, vergehen teilweise Monate. Zudem wurde der Prozess vom Antrag über die Bedarfsermittlung bis hin zu den Leistungen überarbeitet. Der Mensch und die Einschränkung seiner Aktivitäten durch die Umwelt sollen dabei im Mittelpunkt stehen. Allerdings berichten Menschen mit Behin-

Vorwort 14 www.WALHALLA.de derung, dass am Ende dieses angeblich neuen Prozesses genau die gleichen Leistungen zur Verfügung stehen wie bisher. Wie genau sich der ermittelte Bedarf in den Leistungen niederschlägt, bleibt für Betroffene oft intransparent. Wenn darüber hinaus berichtet wird, dass sich die Praxis je nach Bundesland und dort je nach Träger unterscheidet, darf die Frage gestellt werden, warum ein Bundesgesetz nicht bundesweit einheitlich durch die Bundesländer umgesetzt wird. Allen Versuchen, den leistungsberechtigten Personenkreis zukünftig einzuschränken oder Leistungen zu kürzen, ist entschieden entgegenzuwirken. Die Maxime der Kostenneutralität darf nicht schwerer wiegen als der individuell zu ermittelnde Bedarf. Denn dann wäre für die Betroffenen trotz Orientierung am Geist der UN-BRK keine Verbesserung erreicht. Herauslösung der Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe Errungenschaften der neuen Eingliederungshilfe sind mit Sicherheit die neuen Einkommens- und Vermögensgrenzen. Durch die Herauslösung aus der Sozialhilfe können Menschen mit Behinderung nun endlich mehr Geld für größere Anschaffungen sparen, ohne dass Leistungen gekürzt werden. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit soll sich lohnen. Das war jedoch für Menschen, die Eingliederungshilfe bekommen, nur in sehr engen Grenzen der Fall. Dass jetzt das Einkommen und Vermögen der Partnerin oder des Partners keine Rolle mehr spielt, trägt ebenfalls zu mehr Selbstbestimmung bei. Allerdings sehe ich weiterhin großen Nachholbedarf. Die Eingliederungshilfe soll behinderungsbedingte Nachteile ausgleichen. Erst wenn die Leistungen komplett einkommens- und vermögensunabhängig gewährt werden, können wir von einem modernen Teilhaberecht sprechen. Es ist zu früh, ein abschließendes Fazit über die Umsetzung des BTHG zu ziehen. Zum aktuellen Zeitpunkt müssen wir festhalten, dass eine kontinuierliche Weiterentwicklung des Gesetzes im Sinne der Menschen mit Behinderung notwendig ist. Ausschlaggebend wird die Finanzierung und weitere Umsetzung durch Leistungsträger sowie die Entscheidungen der zuständigen Gerichte sein. Die Interessensvertretungen und Verbände sind gefordert, den weiteren Prozess kritisch und gleichzeitig kompromissbereit zu begleiten – solange sich die Kompromisse im Rahmen der UN-BRK bewegen und ausgehandelt werden mit den Menschen, die von diesem System abhängen. Dann erscheint es möglich, das vor vielen Jahren aus-

Vorwort 15 www.WALHALLA.de gegebene Ziel „Selbstbestimmung und individuelle Lebensplanung“ Realität werden zu lassen. Neben den Verbänden, Behörden und Gerichten hat eine weitere Gruppe ganz entscheidenden Einfluss darauf, wie das BTHG vor Ort wirkt: Menschen mit Behinderung, deren Angehörigen und Mitarbeiter*innen von Beratungsstellen. Mit diesem Handbuch erhalten sie wichtige Hilfestellungen zur Umsetzung der Eingliederungshilfe abseits des reinen Paragrafendschungels – aus der Praxis für die Praxis – getreu dem Motto „Nichts über uns ohne uns“. Verena Bentele Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland Mitglied des Verbandsrats des Paritätischen Gesamtverbands Foto: © VdK / Susie Knoll

2. Das Bundesteilhabegesetz 20 www.WALHALLA.de 2 2. Das Bundesteilhabegesetz Holtkamp, Claudia / Stubican, Davor Das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, kurz Bundesteilhabegesetz (BTHG), ist ein umfassendes Gesetzespaket, das am 16. Dezember 2016 im Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats verabschiedet wurde. Der Weg zu diesem Gesetz war langwierig, der jahrzehntelangen unkoordinierten Entwicklung der deutschen Sozialgesetzgebung geschuldet. Es gab immer wieder Bemühungen, gesetzliche Verbesserungen für Menschen mit Behinderung zu erreichen. Das Ergebnis war eine unübersichtliche Anzahl von Regelungen in unterschiedlichen Gesetzen. Mit Einführung des Neunten Sozialgesetzbuches – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) am 1. Juli 2001 wurde versucht, die unterschiedlichen Regelungen in einem Gesetzbuch zusammenzuführen. Ziel des ursprünglichen SGB IX war es, den Anspruch auf individuelle und ressourcenbezogene Rehabilitation und Teilhabe gegenüber allen Rehabilitationsträgern im Gesetz zu verankern. Erstmals wurde geregelt, wie die unterschiedlichen Rehabilitationsträger zusammenarbeiten sollen, um den Teilhabebedarf von leistungsberechtigten Personen aus allen Systemen zu decken. Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg dorthin wurde jedoch bereits sieben Jahre vor Inkrafttreten des SGB IX, also 1994 gesetzt. Im Grundgesetz wurde in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 aufgenommen, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Diese neue normative Regelung kann als Ausgangspunkt für die Entwicklung EINES Gesetzes für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung gesehen werden. Eine weitere bedeutsame Entwicklung ist die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch Deutschland. Am 26. März 2009 ist die UN-BRK in Deutschland in Kraft getreten. Die Konvention konkretisiert die universellen Menschenrechte für Menschen mit Behinderung und verdeutlicht, dass diese ein uneingeschränktes und selbstverständliches Recht auf Teilhabe besitzen. Sie bildet die Grundlage für eine gleichberechtigte, volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderung am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben.

2.1 Die Struktur des Bundesteilhabegesetzes 21 www.WALHALLA.de 2 2.1 Die Struktur des Bundesteilhabegesetzes Gut fünf Jahre nach Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) gibt es eine Reihe von Publikationen, die sich mit Auswirkungen des Gesetzes beschäftigen. Wir finden jedoch im Buchhandel kein Gesetzbuch mit der Aufschrift „Bundesteilhabegesetz“. Wenn aber doch alle von diesem Gesetz sprechen, warum können wir es dann nicht käuflich erwerben? Das BTHG ist ein sogenanntes Artikelgesetz, d. h. es vereint gleichzeitig mehrere Gesetze in sich. Mit dem BTHG werden nicht nur das Leistungsgesetz der Eingliederungshilfe und das SGB IX reformiert, auch in weiteren Gesetzen, wie beispielsweise dem SGB XII (Sozialhilfe) und SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) sind Änderungen vorgenommen worden, sofern sie in einem Zusammenhang mit den Änderungen des Eingliederungshilferechts und des SGB IX stehen. Der Artikel 1 des Artikelgesetzes umfasst die Neufassung des SGB IX in drei Teilen. 5VTWMVWT FGU 5)$ +: 6GKN #NNIGOGKPGT 6GKN ØDGTITGKHGPF ƒƒ 6GKN 'KPINKGFGTWPIUJKNHG TGEJV ƒƒ 6GKN 5EJYGTDGJKPFGTVGP TGEJV ƒƒ Abbildung 1: Struktur des BTHG Änderungen durch das BTHG Artikel 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – (Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB IX) Artikel 2 Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (Übergangsrecht zum Jahr 2017) Artikel 3 Änderung des Ersten Buches Sozialgesetzbuch Artikel 4 Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch Artikel 5 Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch Artikel 6 Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch Artikel 7 Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch

2. Das Bundesteilhabegesetz 22 www.WALHALLA.de 2 Änderungen durch das BTHG Artikel 8 Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch Artikel 9 Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch Artikel 10 Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch Artikel 11 Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch zum Jahr 2017 Artikel 12 Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch zum Jahr 2018 Artikel 13 Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch zum Jahr 2020 Artikel 14 Änderung des Bundesversorgungsgesetzes Artikel 15 Weitere Änderung des Bundesversorgungsgesetzes zum Jahr 2020 Artikel 16 Änderung des Umsatzsteuergesetzes zum Jahr 2017 Artikel 17 Änderung des Umsatzsteuergesetzes zum Jahr 2018 Artikel 18 Änderungen weiterer Vorschriften in Zusammenhang mit Artikel 2 Artikel 19 Weitere Änderungen zum Jahr 2018 Artikel 20 Weitere Änderungen zum Jahr 2020 Artikel 21 Änderung der Eingliederungshilfe-Verordnung Artikel 22 Änderung der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung Artikel 23 Änderung der Frühförderungsverordnung Artikel 24 Änderung der Aufwendungserstattungs-Verordnung Artikel 25 Bekanntmachungserlaubnis und Umsetzungsunterstützung Artikel 25a Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch zum Jahr 2023 Artikel 26 Inkrafttreten, Außerkrafttreten Das „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG)“ – so die offizielle Bezeichnung – wurde am 29. Dezember 2016 im Bundesgesetzblatt (BGBl) veröffentlicht. Diese Veröffentlichung ist frei zugänglich und kann online unter www.bgbl.de heruntergeladen werden. In diesem Dokument sind alle 26 Artikel des BTHG nachzulesen. Mit der Gesetzesreform wurde das ursprüngliche SGB IX grundlegend verändert. Wie oben in Abbildung 1 dargestellt, ist das SGB IX in drei Teile gegliedert:

2.1 Die Struktur des Bundesteilhabegesetzes 23 www.WALHALLA.de 2 ▪▪ Teil 1 (§§ 1 bis 89 SGB IX – 14 Kapitel) Regelungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen (Allgemeiner Teil) ▪▪ Teil 2 (§§ 90 bis 150 SGB IX – 11 Kapitel) Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen (Eingliederungshilferecht) ▪▪ Teil 3 (§§ 151 bis 241 SGB IX – 14 Kapitel) Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen (Schwerbehindertenrecht) In Teil 1 sind wesentliche Grundsätze und Begriffsdefinitionen formuliert, auf die auch im Teil 2 und Teil 3 Bezug genommen wird. Die BTHG-Änderungen in Teil 1 sollen die Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger stärken. Zudem sind hier die Bedarfserkennung und -ermittlung für alle Leistungsgesetze, die Zuständigkeitsklärung und die Koordinierung der Leistungen verankert. Erläutert werden auch die unterschiedlichen Leistungsgruppen, die auch bei der Eingliederungshilfe eine Rolle spielen (medizinische Rehabilitation, Teilhabe am Arbeitsleben, Teilhabe an Bildung und soziale Teilhabe) und deren Anspruchsvoraussetzungen (s. Kapitel 5). Ebenfalls aufgeführt sind unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen (s. Kapitel 6). Die nachfolgende Tabelle zeigt auf, welche Rehabilitationsträger für welche Leistungen zuständig sein können.

2. Das Bundesteilhabegesetz 24 www.WALHALLA.de 2 RehaTräger Leistungsgruppen im SGB IX Medizinische Rehabilitation (§§ 4248) Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 4963) Teilhabe an Bildung (§ 75) Soziale Teilhabe (§§ 7684) Unterhaltssichernde, ergänzende Leistungen (§§ 6474) Gesetzliche Krankenversicherung Ja Nein Nein Nein Ja Bundesagentur für Arbeit Nein Ja Nein Nein Ja Gesetzliche Unfallversicherung Ja Ja Ja Ja Ja Gesetzliche Rentenversicherung Ja Ja Nein Nein Ja Alterssicherung der Landwirte Ja Nein Nein Nein Ja Kriegsopferversorgung, -fürsorge Ja Ja Ja Ja Ja Öffentliche Jugendhilfe Ja Ja Ja Ja Nein Eingliederungshilfe Ja Ja Ja Ja Nein Integrationsämter (kein RehaTräger, aber Sozialleistungsträger) Nein Ja Nein Nein Nein Tabelle 1: Leistungsgruppen und die zuständigen Rehabilitationsträger

2.1 Die Struktur des Bundesteilhabegesetzes 25 www.WALHALLA.de 2 Zum 1. Januar 2020 wurde die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe (SGB XII) herausgelöst und in den Teil 2 des SGB IX überführt. Die Eingliederungshilfe erfährt seitdem unter dem neuen Leitprinzip der Personenzentrierung große Veränderungen ▪▪ beim Zugang zu den Leistungen, ▪▪ bei den Leistungen selbst, ▪▪ bei der Ermittlung des Bedarfs, ▪▪ bei der Planung der Hilfen, ▪▪ beim Leistungsvertragsrecht und ▪▪ bei den Partizipationsmöglichkeiten der leistungsberechtigten Menschen. Die Vorschriften von Teil 3 enthalten das Schwerbehindertenrecht; sie wurden zum 1. Januar 2018 vom bisherigen zweiten Teil des SGB IX in den dritten Teil verschoben. Dabei sind die Inhalte weitgehend gleichgeblieben, seit 2018 jedoch aufgrund der Verschiebung mit neuen Paragrafen versehen. Die wesentlichen Änderungen werden nachfolgend kurz aufgeführt: ▪▪ In Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind Frauenbeauftragte zu installieren, um eine gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen mit Behinderung zu ermöglichen (§ 222 Abs. 5 SGB IX). ▪▪ Die Schwerbehindertenvertretung wird gestärkt. Ab 100 schwerbehinderten Personen im Betrieb (früher 200 Personen) kann die Schwerbehindertenvertretung freigestellt werden. Die Stellvertretung wird ebenso wie die Vertrauensperson für Schulungs- und Bildungsveranstaltungen vom Arbeitgeber freigestellt (§ 179 Abs. 8 SGB IX). ▪▪ Die Beauftragte des Arbeitgebers wird zur Inklusionsbeauftragten (§ 181 SGB IX). Diese Person vertritt den Arbeitgeber verantwortlich in Angelegenheiten schwerbehinderter Beschäftigter. ▪▪ Für den Schwerbehindertenausweis wird das neue Merkzeichen „TBl“ für taubblinde Menschen eingeführt. Dieses Merkzeichen wird eingetragen, wenn ein Grad der Behinderung von mindestens 70 durch eine Störung der Hörfunktion und zusätzlich ein Grad der Behinderung von 100 aufgrund einer Störung des Sehvermögens vorliegt (Änderung der Schwerbehindertenausweisverordnung – SchwbAwV § 3 Abs. 1 Satz 8).

2. Das Bundesteilhabegesetz 26 www.WALHALLA.de 2 ▪▪ Integrationsprojekte werden nun Inklusionsbetriebe genannt. In Inklusionsbetrieben müssen mindestens 30 Prozent (früher 25 Prozent) der Beschäftigten schwerbehindert sein. Maximal dürfen 50 Prozent der Beschäftigten eine Schwerbehinderung vorweisen (§ 215 SGB IX). ▪▪ Menschen mit Behinderung haben ein Rückkehrrecht in die Werkstatt für Menschen mit Behinderung, wenn sie aus einer Werkstatt auf den ersten Arbeitsmarkt gewechselt haben, sie das Budget für Arbeit oder Leistungen eines anderen Leistungsanbieters in Anspruch genommen haben. Die Reformstufen des Bundesteilhabegesetzes Die umfassenden gesetzlichen Änderungen zur Reform des Teilhaberechts, insbesondere der Eingliederungshilfe, machen einen längeren Umstellungsprozess notwendig, um den Rehabilitationsträgern und Leistungsvertragspartnern ausreichend Zeit zur Umsetzung der neuen Regelungen zu geben. Das BTHG tritt deshalb zeitlich versetzt in vier Stufen in Kraft, die aufeinander aufbauen, wie nachstehende Abbildung 2 zeigt.

8. Ermittlung des Bedarfs und Planung der Leistungen 134 www.WALHALLA.de 8 sie tun möchte. Oder, anders ausgedrückt, es werden alle Fragen gestellt, die beantwortet werden müssen, um herauszufinden, wie die Person im Sinne von Teilhabe in eine Lebenssituation eingebunden werden kann: ▪▪ sie muss es wollen, ▪▪ es muss deutlich sein, was sie zu tun imstande ist und, korrespondierend dazu, ▪▪ welche Faktoren in der Umwelt ihr dabei helfen oder das Tun erschweren. Alle Komponenten der ICF finden sich hier in ihrer Wechselwirkung aufeinander wieder: ▪▪ die Körperfunktionen und -strukturen, ▪▪ die Kontextfaktoren, unterschieden nach umwelt- und personenbezogenen Förderfaktoren oder Barrieren und ▪▪ die Partizipation/Teilhabe, die in der ICF mit Aktivitäten zusammengefasst werden, weil der Mensch immer in gesellschaftlich geprägten Lebensbereichen handelt. Der Gesetzgeber stellt die Komponenten der Aktivitäten und Teilhabe und damit auch das damit verbundene Konzept von Leistung und Leistungsfähigkeit in das Zentrum der Vorgaben für ein Bedarfsermittlungsinstrument. Er listet in § 118 SGB IX alle neun Lebensbereiche auf: Lebensbereiche zur Bedarfsermittlung 1. Lernen und Wissensanwendung (z. B. bewusste sinnliche Wahrnehmungen, elementares Lernen, Wissensanwendung) 2. Allgemeine Aufgaben und Anforderungen (z. B. Aufgaben übernehmen, die tägliche Routine durchführen, mit Stress und anderen psychischen Anforderungen umgehen) 3. Kommunikation (z. B. Kommunizieren als Empfänger, Kommunizieren als Sender, Konversation und Gebrauch von Kommunikationsgeräten und -techniken)

8.2 Bedarfsermittlung in der Eingliederungshilfe 135 www.WALHALLA.de 8 4. Mobilität (z. B. die Körperposition ändern und aufrechterhalten, Gegenstände tragen, bewegen und handhaben, gehen und sich fortbewegen, sich mit Transportmitteln fortbewegen) 5. Selbstversorgung (z. B. sich waschen, pflegen, an- und auskleiden, die Toilette benutzen, essen, trinken, auf seine Gesundheit achten) 6. Häusliches Leben (z. B. Beschaffung von Lebensnotwendigkeiten, Haushaltsaufgaben, Haushaltsgegenstände pflegen und anderen helfen) 7. Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen (z. B. allgemeine interpersonelle Interaktionen, besondere interpersonelle Beziehungen) 8. Bedeutende Lebensbereiche (z. B. Erziehung/Bildung, Arbeit und Beschäftigung, wirtschaftliches Leben) 9. Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben (z. B. Gemeinschaftsleben, Erholung und Freizeit, Religion und Spiritualität) Hauptkapitel der Klassifikation der Aktivitäten und Teilhabe (Schuntermann 2004, S. 20) Die Betonung dieser Komponenten aus der ICF bei den Vorgaben für ein Bedarfsermittlungsinstrument verweisen auf das große Spektrum des möglichen Einsatzbereiches und damit auf den umfassenden Gegenstand der Eingliederungshilfe. Alle Lebensbereiche sind erfasst, und die Leistungen der Eingliederungshilfe können in allen Lebenssituationen, in die ein Einbezogensein und damit Teilhabe angestrebt wird, wirken. Das unterscheidet die Eingliederungshilfe von einigen anderen Rehabilitationsbereichen. Zum Beispiel reduziert man bei der beruflichen Teilhabe den Blick nur auf bestimmte Lebensbereiche. Verwendung von Items und ihre Beurteilungsmerkmale Der letzte wesentliche Aspekt bei der Frage, wie das Bedarfsermittlungsinstrument ICF-orientiert gestaltet werden soll, ist die Ver-

8. Ermittlung des Bedarfs und Planung der Leistungen 136 www.WALHALLA.de 8 wendung der „Sprache“ der ICF. Es geht um die klassifizierenden Begriffe in den jeweiligen Komponenten, den sogenannten Items. Und es geht um die Ausprägung der relevanten Items, damit die individuelle Funktionsfähigkeit beschrieben werden kann. In Abbildung 11 wird die Struktur der ICF noch einmal veranschaulicht – in dieser Ebenen-Darstellung ohne die Wechselwirkungen zwischen den Strukturelementen. Abbildung 11: Struktur der ICF (Quelle: Rentsch/Buchner 2005, S. 19, vgl. DIMDI 2005, S. 147) Jede Komponente (z. B. Körperfunktionen, Aktivitäten oder Umweltfaktoren) und auch die darunterliegenden Konstrukte wie Leistung und Leistungsfähigkeit oder ihre Beurteilung, ob z. B. der Umweltfaktor fördernd oder hindernd ist, muss für die jeweilige Person mit einem funktionalen Gesundheitsproblem detailliert beschrieben werden. Dazu stehen in der ICF für die Komponenten und Konstrukte umfassende Item-Listen zur Verfügung. Nur für die Komponente der personbezogenen Faktoren hat die WHO keine Items ausgearbeitet, d. h. die personbezogenen Faktoren sind nicht klassifiziert.

8.2 Bedarfsermittlung in der Eingliederungshilfe 137 www.WALHALLA.de 8 Die Körperfunktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) sind gegliedert nach Organen, Organsystemen, psychologischen Konstrukten wie Intelligenz usw. Die Kodierung dieser Items beginnt mit dem Buchstaben „b“ von body functions. Die Klassifikation der Körperstrukturen ist nach dem gleichen Prinzip gegliedert. Die Item-Codes beginnen mit „s“ von body structures. Bei den Aktivitäten und der Teilhabe sind die Lebensbereiche das Gliederungsprinzip, und die Item-Codes beginnen mit „d“ (von life domains). Die Item-Codes der Umweltfaktoren schließlich beginnen mit dem Buchstaben „e“ von environmental factors. Die maximale Anzahl verfügbarer Items zur Beschreibung des Gesundheitszustandes einer Person beträgt auf der Ebene der Kapitelüberschriften 34 (8 für Körperfunktionen, 8 für Körperstrukturen, 9 für die der Leistung und 9 für die der Leistungsfähigkeit) und 362 auf der zweiten Ebene. Die Klassifizierungsmöglichkeit setzt sich noch über zwei weitere Ebenen fort, so dass insgesamt 1.424 Codes zur Verfügung stehen. Dazu kommt die Klassifizierung der Umweltfaktoren in fünf Kapiteln mit einigen hundert weiteren Codes. Bei der Entwicklung eines Bedarfsermittlungsinstrumentes stellt sich angesichts dieser Zahlen immer die Frage, in welcher Weise das System für Anwender handhabbar gemacht werden kann. Für bestimmte Anwendungen in eingrenzbaren medizinischen oder Rehabilitationsbereichen wird die hohe Zahl reduziert und es werden sogenannte Core-Sets entwickelt, die aus Items bestehen, die für den eingegrenzten Bereich eine hohe Relevanz haben. Das ist bei der Entwicklung des Instrumentes, das den Bedarf für die Teilhabe eines Menschen im Rahmen der Eingliederungshilfe erfassen soll, umstritten, da mit einer vorab getroffenen Auswahl an Items immer die Gefahr verbunden ist, relevante Bereiche zur Beschreibung der individuellen Lebenssituation zu übersehen. Mit der Identifizierung von zur Beschreibung der Funktionsfähigkeit relevanten Items muss notwendigerweise auch noch eine Beurteilung der identifizierten Items erfolgen. Ohne dass mit dem jeweiligen Item ein Beurteilungsmerkmal angegeben wird, wäre die Kodierung in der ICF sinnlos (vgl. Schuntermann 2004, S. 33). Es gibt verschiedene Beurteilungsmerkmale, um mit den Items den Zustand der funktionalen Gesundheit zu charakterisieren. Je nach

10. Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen 160 www.WALHALLA.de 10 10. Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen Küster, Angela / Schrader, Kerstin / Strasser, Andrea Mit den Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen werden die Verpflichtungen anderer Sozialleistungsträger hinsichtlich ihrer Leistungen für Menschen mit Behinderungen beschrieben. Die jeweiligen Leistungen bilden sich in eigenen gesetzlichen Grundlagen ab. 10.1 Regelungen zu Vorrang und Nachrang Der Gesetzgeber hält mit der Reform der Eingliederungshilfe am Nachrangprinzip der steuerfinanzierten Leistungen der Eingliederungshilfe fest. Somit regelt das SGB IX in § 92 auch das Verhältnis zu den eigenen Leistungen und den Leistungen anderer. Der Nachrang der Eingliederungshilfe wird in § 91 SGB IX definiert. Nach § 91 Abs. 1 SGB IX erhält ein Mensch mit Behinderung Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn die erforderlichen Leistungen nicht von anderen oder von Trägern anderer Sozialleistungen gewährt werden. Die Eingliederungshilfe wird mit der Herauslösung aus dem SGB XII und der Überführung in den zweiten Teil des SGB IX zwar formal aus der Sozialhilfe ausgegliedert, inhaltlich wird jedoch an den sozialhilferechtlichen Wesensmerkmalen festgehalten. Die Vorschrift im Eingliederungshilferecht entspricht weiterhin dem Gedanken der Sozialhilfe, dass die Leistungen der Sozialhilfe gemäß § 2 SGB XII nur nachrangig gewährt werden. Neben bzw. zusätzlich zu dieser Nachrangregel ist § 92 SGB IX zu beachten, wonach der Leistungsberechtigte im Rahmen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit einen Eigenbeitrag zu den Leistungen beisteuern muss – es sei denn, diese sind beitragsfrei gestellt (zum Einkommen und Vermögen sowie zu beitragsfreien Leistungen s. Kapitel 9). Der § 91 Abs. 2 SGB IX übernimmt inhaltsgleich die Regelungen des § 2 Abs. 2 SGB XII. Demnach bleiben Verpflichtungen anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen, unberührt. Die Leistungen anderer dürfen nicht deshalb nicht gewährt werden, weil das Recht der Eingliederungshilfe entsprechende Leistungen vorsieht. Dies gilt insbesondere, wenn Träger anderer Sozialleistungen

10.2 Schnittstelle zur Pflege (SGB XI/SGB XII) 161 www.WALHALLA.de 10 oder anderer Stellen gesetzlich zu Leistungen verpflichtet sind, die die Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen gewährleisten oder fördern. An dieser Stelle wird der Nachrang der Eingliederungshilfe im Hinblick auf die gesetzlichen Verpflichtungen der vorrangigen Sozialleistungssysteme konkretisiert. Mit dem Verweis auf andere Stellen möchte der Gesetzgeber Bezug nehmen auf Artikel 4 Abs. 2 UN-BRK. Diese Vorschrift fordert, dass alle staatlichen Stellen in ihrem Verantwortungsbereich die Verwirklichung der Rechte für Menschen mit Behinderungen gewährleisten und fördern. Neben den anderen Sozialleistungssystemen und anderen Stellen kommen noch weitere Leistungen anderer in Betracht, z. B. Versicherungsleistungen, die sich aus vertraglichen Verpflichtungen ergeben. Der § 91 Abs. 3 SGB IX verweist auf die Regelung, dass sich das Verhältnis der Leistungen der Eingliederungshilfe und der Leistungen der Pflegeversicherung nach § 13 Abs. 3 SGB XI bestimmt. Die Regelung sieht einen Gleichrang für die Leistungen der Eingliederungshilfe und die Leistungen der Pflegeversicherung vor (vgl. Deutscher Bundestag 2016, S. 270 f.). 10.2 S chnittstelle zur Pflege (SGB XI/SGB XII) Die Problematik hinsichtlich der Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Pflege bleibt auch mit der Reform der Eingliederungshilfe weiterhin bestehen. Der Gesetzgeber hat zwar den im Gesetzgebungsverfahren geplanten Vorrang der Pflege vor der Eingliederungshilfe zurückgenommen, wie auch die Ausweitung der Regelungen einer pauschalen Abgeltung von Pflegeleistungen (§ 43a SGB XI i. V. m. § 71 Abs. 4 SGB XI) auf ambulante Wohnformen, dennoch bleibt die Abgrenzungsproblematik zu den Leistungen der Pflege durch die Reform der Pflegeversicherung aufrechterhalten. Reform der Pflegeversicherung durch die Pflegestärkungsgesetze Mit den Pflegestärkungsgesetzen II und III wurde die Pflegeversicherung reformiert und zum 1. Januar 2017 ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt. Dieser wurde auch auf das SGB XII, die Hilfe zur Pflege, übertragen.

10. Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsbereichen 162 www.WALHALLA.de 10 Mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs wurden die Grundlagen der Begutachtung und die Feststellung der Pflegebedürftigkeit neu geregelt. Ein Neues Begutachtungsassessment (NBA) wurde entwickelt, das den Fokus stärker auf die kognitive und psychische Beeinträchtigung legt. Damit werden Bedarfe, die früher von der Eingliederungshilfe abgedeckt waren, nun auch von den Leistungen der Pflegeversicherung erfasst. Die Beschränkung der Pflege auf körperbezogene Verrichtungen wird aufgegeben. Das Leistungsspektrum der Pflegeversicherung wird durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erweitert. Dadurch werden auch mehr Menschen mit Behinderung, die Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, in der Pflegeversicherung anspruchsberechtigt. Die Abgrenzung der Leistungen kann im Einzelfall sehr schwierig werden, da die Leistungen der Eingliederungshilfe und die Leistungen der Pflegeversicherung gleichrangig nebeneinander stehen. Die zentralen Kriterien des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sind der Grad der Selbstständigkeit und das Angewiesensein auf die Unterstützung einer anderen Person. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff stellt somit nicht mehr auf die Defizite eines pflegebedürftigen Menschen ab. Er richtet den Blick auf den Umfang der Selbstständigkeit und Fähigkeit. Bei der Begutachtung wird – wie auch nachstehende Abbildung zeigt – der Grad der Selbstständigkeit in den pflegerelevanten Lebensbereichen (Modulen) erfasst und bewertet.

10.2 Schnittstelle zur Pflege (SGB XI/SGB XII) 163 www.WALHALLA.de 10 Abbildung 12: Neues Begutachtungsassessment (NBA) in der Pflegeversicherung Neben den Modulen 1 bis 6 werden darüber hinaus noch die Module 7 außerhäusliche Aktivitäten und 8 Haushaltsführung erfasst. Sie sind allerdings nicht maßgeblich für die Einstufung der Pflegebedürftigkeit. Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff entfällt in der Pflege der Fokus auf die vorwiegend körperbezogene und hauswirtschaftliche Versorgung sowie auf die Beschränkung der Anleitung und Beaufsichtigung bei der Gestaltung des Alltagslebens. Im Mittelpunkt steht im neuen Modell auch die Anleitung, Motivation und Schulung, die die Selbstständigkeit und Fähigkeiten des pflegebedürftigen Menschen stärken sollen. Die aktivierende Pflege bleibt ein zentraler Aspekt bei der Erbringung von Leistungen in der Pflege. Aufgaben und Leistungen der Pflegeversicherung Nach § 2 Abs. 1 SGB XI ist es Aufgabe der Leistungen der Pflegeversicherung, den pflegebedürftigen Menschen zu helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und

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