Grundlagen – SGB XIV: Soziales Entschädigungsrecht Johannes Friedrich Textausgabe mit praxisorientierter Einführung
www.WALHALLA.de ISBN 978-3-8029-7241-6 € 14,95 [D] • AKTUELL • PRAXISGERECHT • VERSTÄNDLICH WISSEN FÜR DIE PRAXIS Rechtsgrundlagen kennen, verstehen und anwenden! Diese Arbeitshilfe enthält den aktuellen, seit 1. Januar 2024 geltenden Gesetzestext des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB XIV) „Soziales Entschädigungsrecht“. Die Einführung gibt Überblick über die reformierte Opferentschädigung, erläutert *HVHW]HVDXIEDX /HLVWXQJVYRUDXVVHW]XQJHQ GHV 6*% ;,9 VRZLH 5HFKWH XQG 3ʴLFKWHQ der Berechtigten: • Entschädigungstatbestände für Opfer von Gewalttaten, von Kriegsauswirkungen, Schädigungen durch Schutzimpfungen • Leistungsgrundsätze und Leistungsformen • Erweiterung des Gewaltbegriffs • Einsatz Schneller Hilfen, z. B. Traumambulanz, psychotherapeutische Frühinter- vention, Fallmanagement • Anspruchsgrundlagen für Leistungen der Krankenbehandlung, zur Teilhabe, bei 3ʴHJHEHG¾UIWLJNHLW • (QWVFK¦GLJXQJV]DKOXQJHQ %HUXIVVFKDGHQVDXVJOHLFK XQG VRQVWLJH ʳQDQ]LHOOH +LOIHQ Ideal geeignet, um sich in das Rechtsgebiet einzuarbeiten, für Aus- und Fortbildungen sowie zum schnellen Nachschlagen in der Praxis. Johannes Friedrich ist Richter am Sozialgericht Regensburg und Lehrbeauftragter der 7HFKQLVFKHQ +RFKVFKXOH 'HJJHQGRUI LP 6WXGLHQJDQJ Ȩ=HUWLʳ]LHUWHU %HUXIVEHWUHXHUȦ Beim Zentrum Bayern Familie und Soziales in Regensburg war er für die erste Schwerpunktstelle Bayerns für Opferentschädigung verantwortlich.
Schnellübersicht Seite Vorwort Abkürzungen 7 9 Überblick zur neuen Gesetzesstruktur 11 1 Die Grundtatbestände für Leistungen 15 2 DieGrundsätze für Leistungen der SozE 29 3 Das neue Leistungsrecht der SozE 38 4 Einsatz von Einkommen und Vermögen, Leistungsdynamisierung 76 5 Organisation, Durchführung und Verfahren 79 6 Übergangsrecht, Besitzstandregelungen, Sonstiges 89 7 Schlussbemerkungen 96 8 Gesetzliche Grundlagen (SGB XIV, EVV, SGBXIVBSchAV, AuslZustV) 99 9 Stichwortverzeichnis 162 10
Vorwort Nach einem guten Jahrzehnt der Vorbereitung in Form von Diskussionsforen, Werkstattgesprächen und Gesetzesentwürfen ist am 1. Januar 2024 das Kernstück der Neuregelung des Sozialen Entschädigungsrechts in Kraft getreten. Die Erwartungen waren vielfältig: Die Verbände forderten den Erhalt und Ausbau der bisherigen Ansprüche sowohl im Bereich der Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen als auch der Leistungen. Die Politik musste darauf achten, keine konturlosen und ausufernden Entschädigungstatbestände zu eröffnen. Die bisher bereits anerkannten Geschädigten wollten keinesfalls Leistungseinbußenakzeptieren, bestenfalls ein „Leistungsupgrade“ ins neue Recht. Und die Verwaltung erhoffte sich – angesichts sehr komplexer Entschädigungstatbestände und Leistungsregeln bei notorischer Unterbesetzung – pragmatische Lösungen, die möglichst effizient umsetzbar sein sollten. Es ging also beileibe nicht nur darum, das bisherige Bundesversorgungsgesetz (BVG) abzulösen, welches ursprünglich als eines der ersten großen Sozialgesetze der Nachkriegszeit der Versorgung der Kriegsbeschädigten samt Angehöriger und Hinterbliebener diente, deren Zahl mit zunehmender Zeitdauer naturgemäß immer kleiner wurde. Auch die sogenannten Nebengesetze (also die Gesetze, die sich kraft Verweisung im reichhaltigen Leistungsspektrum des BVG bedienten) erschienen mehr und mehr reformbedürftig, allen voran das 1976 in Kraft getretene Opferentschädigungsgesetz. Was nach langem Mahlen der Mühlsteine der Gesetzgebung zum Vorschein gekommen ist, wird sich nun in der Praxis beweisen müssen. Bereits jetzt darf positiv vorangestellt werden, dass die Struktur des SGB XIV klar undübersichtlich ist. Die Beträge im Bereich der Versorgungsrenten wurden erheblich erhöht. Gerade im Bereich der Opferentschädigung ist sicher auch die ein oder andere Forderung der Opferschutzverbände berücksichtigt worden. Am meisten Enttäuschung dürfte sich auf Seiten der Versorgungsverwaltung breitmachen, denn nennenswerte Verfahrenserleichterungen finden sich kaum. Im Gegenteil: Die Wahlrechte zwischen neuem und altem Rechtdürftenzunächst füreinezusätzliche Arbeitsbelastung sorgen. Die vorliegende Einführung ist der Versuch einer pragmatischen Handreichung mit Blick auf die Neuerungen. Die konkrete Rechtsgewww.WALHALLA.de 7
staltung – das zeigt sich schon jetzt – wird ohnehin in vielen Bereichen der Rechtsprechungüberantwortet sein. Im Anschluss an die Einführung sind der aktuelle Gesetzestext des „Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch – Soziales Entschädigungsrecht (SGB XIV)“ sowie einige Durchführungsverordnungen mit Rechtsstand 1. Januar 2024 abgedruckt, sodass beim Lesen des Erläuterungstextes parallel dazu in den entsprechenden Normen nachgeschlagen werden kann. Das ermöglicht einen schnellen, effektiven Überblick und fördert das Verständnis zu Aufbau, Inhalten und Wirkweisen des SGB XIV. Aus Gründen der Kürze und besseren Lesbarkeit wurden sprachlich alle Genderformen im generischen Maskulinum zusammengefasst. Selbstverständlich ist dies nicht diskriminierend gemeint, es sind ausdrücklich alle Menschen angesprochen. Johannes Friedrich 8 www.WALHALLA.de
1.1 Zweck und Berechtigte Gleich zu Beginn in § 11) Satz 1 deutet der Gesetzgeber den Kerngedanken der Sozialen Entschädigung an: die Unterstützung von Menschen, die durch ein schädigendes Ereignis eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben – wobei es einschränkend nur um Ereignisse geht, für die die staatliche Gemeinschaft eine besondere Verantwortung2) trägt. Der Gesetzgeber hat sich dabei der überfälligen Aufgabe angenommen und das Recht der Sozialen Entschädigung (kurz: SozE) neu strukturiert. Das bedeutet nicht, dass die bisherigen Grundsätzeüber den Haufen geworfen wurden, sondern dass das bisherige Recht neu geordnet wurde. Auch sprachliche Anpassungen sind davon erfasst: Während das BVG nochüberwiegend von „Beschädigten“ und deren Hinterbliebenen sprach, modernisiert der Gesetzgeber des SGB XIV dies in § 2 zum Oberbegriff der „Berechtigten“, die sich wiederum in die eigentlichen „Geschädigten“ sowie deren Angehörige, Hinterbliebene und Nahestehende aufgliedern: Berechtigte Beschreibung Norm Geschädigte Personen, die durch ein schädigendes Ereignis unmittelbar eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben §2 Abs. 2 Angehörige Ehegatten sowie Kinder und Eltern von Geschädigten (Als Kinder gelten auch in den Haushalt Geschädigter aufgenommene Stiefkinder sowie Pflegekinder im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Bundeskindergeldgesetzes.) §2 Abs. 3 1) Paragrafen ohne Gesetzesangabe sind solche des SGB XIV. 2) Etwa im Bereich der Opferentschädigung, weil trotz des staatlichen Gewaltmonopols eine Straftat nicht verhindert werden konnte; oder im Bereich von Schäden bei Impfungen, die vom Staat empfohlen oder angeordnet wurden. 1 12 www.WALHALLA.de
Berechtigte Beschreibung Norm Hinterbliebene Witwen, Witwer und Waisen, Eltern sowie Betreuungsunterhaltsberechtigte einer an den Schädigungsfolgen verstorbenen Person (Als Waisen gelten auch in den Haushalt der verstorbenen Person aufgenommene Stiefkinder sowie Pflegekinder im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Bundeskindergeldgesetzes.) §2 Abs. 4 Nahestehende Geschwister sowie Personen, die mit Geschädigten eine Lebensgemeinschaft führen, die der Ehe ähnlich ist §2 Abs. 5 Hinweis: Nicht alle diese Gruppen haben dieselben Rechte und Ansprüche, weswegen eine genaue Zuordnung auch praktisch besonders wichtig ist. Während die meisten dieser Begriffe selbsterklärend sind, wird die eheähnliche Lebensgemeinschaft einer konkreten Ausgestaltung durch die Rechtsprechung bedürfen. Der Gesetzgeber hält sich hier kurz und verlangt eine „gewisse, einer Ehe ähnliche Stabilität der Paarbeziehung“, wobei auf die Umstände der Partnerschaft abzustellen sei und eine reine Wohngemeinschaft nicht ausreiche.3) Letztlich ist es nahe liegend, hier auf die Kriterien der eheähnlichen Gemeinschaft abzustellen, wie sie von der Rechtsprechung etwa im Bereich des § 7 SGB II zur Bedarfsgemeinschaft entwickelt wurden.4) Im Wesentlichen unverändert übernommen wird ein zentraler Grundgedanke der bisherigen SozE: dasKausalitätsprinzip.Gleich§1 Abs. 1 macht dies unmissverständlich klar, wenn bestimmt wird, dass (nur) Menschen unterstützt werden, die durch ein schädigendes Ereignis eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben; es gibt also weiterhin keine Leistungen allein für den Umstand, z. B. überhaupt 3) Vgl. BT-Drs. 19/13824, S. 170. 4) Beispielsweise BSG, Urteil vom 23.08.2012 – B 4 AS 34/12 R; BSG, Urteil vom 12.10.2016 – B 4 AS 60/15 R; BSG, Urteil vom 27.02.2008 – B 14 AS 23/07 R. Zweck und Berechtigte 1 www.WALHALLA.de 13
Opfer einer Tat im Sinne der Opferentschädigung geworden zu sein, ohne dadurch gesundheitliche Einbußen erlitten zu haben. 1.2 Grundtatbestände (schädigende Ereignisse) im Überblick § 1 Abs. 2 grenzt die SozE nach dem SGB XIV auf vier Grundtatbestände(schädigende Ereignisse) ein: Normenbereiche Schädigende Ereignisse (Grundtatbestände) §§13–20 bestimmte Gewalttaten (= das vormalige OEG) §§21, 22 bestimmte Kriegsauswirkungen beider Weltkriege (= das bisherige BVG) §23 bestimmte Ereignisse im Zusammenhang mit der Ableistung des Zivildienstes (= das vorherige ZDG) §24 bestimmte Schutzimpfungen und andere Maßnahmen spezifischer Prophylaxe (= bisher Teil des IfSG) Überblick zur neuen Gesetzesstruktur 1 14 www.WALHALLA.de
2 Die Grundtatbestände für Leistungen Grundtatbestand 1: Opfer bestimmter Gewalttaten ................ 16 Grundtatbestand 2: Kriegsauswirkungen beider Weltkriege .. 24 Grundtatbestand 3: Gesch-digte durch Ereignisse im Zivildienst ................................................................................... 25 Grundtatbestand 4: Gesch-digte durch Schutzimpfungen und spezifische Prophylaxe ............................................................... 26 2 www.WALHALLA.de
2.1 Grundtatbestand 1: Opfer bestimmter Gewalttaten Die §§ 13 und 14 regeln die neuen Grundtatbestände der Opferentschädigung: Normen Schädigendes Ereignis §13 Abs. 1 Nr. 1 Vorsätzlicher, rechtswidriger, unmittelbar gegen eine Person gerichteter tätlicher Angriff (körperliche Gewalttat) oder Folgen dessen rechtmäßiger Abwehr §13 Abs. 1 Nr. 2 Sonstiges vorsätzliches, rechtswidriges, unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung einer Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten (psychische Gewalttat) §13 Abs. 2 Regelbeispiele für „schwerwiegendes Verhalten“ nach Abs. 1 Nr. 2 Gleichstellungstatbestände §14 Abs. 1 Nr. 1 Vorsätzliche Beibringung von Gift §14 Abs. 1 Nr. 2 Fehlgehen der Gewalttat, sodass sie eine andere Person trifft als die Person, gegen die sie gerichtet war §14 Abs. 1 Nr. 3 Angriff in der irrtümlichen Annahme des Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes §14 Abs. 1 Nr. 4 Wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen §14 Abs. 1 Nr. 5 Erhebliche Vernachlässigung von Kindern §14 Abs. 1 Nr. 6 Herstellung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung von Kinderpornografie nach § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 3 und 4 StGB §14 Abs. 2 Satz1 Schädigung durch Miterleben einer Tat oder Auffinden des Opfers (Schockschaden 1) §14 Abs. 2 Satz2 Schädigung durch Überbringung einer Nachricht vom Tode oder der schwerwiegenden Verletzung des Opfers (Schockschaden 2) 2 16 www.WALHALLA.de
Manche der oben dargestellten Schädigungsereignisse sind praktisch kaum relevant (etwa das Fehlgehen der Verletzungshandlung), sodass hier nur auf das Kernstück sowie die wesentlichen Neuerungen eingegangen werden soll. Kernelement ist und bleibt der bisher schon bekannte Grundbegriff des tätlichen Angriffs, den das Bundessozialgericht5) im Jahr 2014 einschränkend definiert hat: Bereits zuvor hatte das BSG dafüreinein feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung gefordert, d. h. eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person, bei der der Täter körperlich (physisch) auf einen anderen einwirkt. Ein aggressives Verhalten des Täters verlangte das BSG jedoch nicht zwingend, sodass auch jemand unter dem Schutz des OEG stand, der zum körperlichen Widerstand nicht fähig ist. Kein tätlicher Angriff lag aber vor, wenn sich Einwirkungen – ohne Einsatz körperlicher Mittel – allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellten und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielten. 2014 erfolgte jedoch eine klare Absage an die bisherige Rechtsprechung6),nachder eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person auch ohne physische Einwirkung (Schläge, Schüsse, Stiche, Berührung etc.) bereits aufgrund der objektiven Gefährlichkeit der Situation (z. B. Drohung mit geladener Schusswaffe) für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs ausreichte. Das BSGüberantwortete die Entscheidungüber einen weitergehenden Schutzbereich explizit dem Gesetzgeber. Der hat nunmehr „geliefert“ und den neuen Grundtatbestand der psychischen Gewalttat eingeführt, bei dem wegen seiner Unbestimmtheit bereits jetzt absehbar ist, dass viele juristische Gefechte folgen werden, bis einigermaßen Klarheit über die Konturen bestehen wird. Immerhin so viel ist klar: Das Verhalten muss gegen die freie Willensentscheidung orientiert und es muss (wie bisher) vorsätzlich und rechtswidrig sowie unmittelbar gegen eine Person gerichtet sein. Doch was heißt das konkret? 5) BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R Rn. 19 ff. unter Verweis auf weitere BSG-Rechtsprechung, insb. Urteil vom 29.04.2010 – B 9 VG 1/09 R, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R sowie Beschlüsse vom 25.02.2014 - B 9 V 65/13 B – und vom 17.09.2014 bzw. 22.09.2014 – B 9 V 27 bis 29/14 B. 6) BSG, Urteile vom 24.07.2002 – B 9 VG 4/01 R – „Drohung mit einer scharf geladenen und entsicherten Schusswaffe“ und vom 02.10.2008 – B 9 VG 2/07 R – „bloße Drohung zu schießen, ohne Besitz einer Schusswaffe“. Grundtatbestand 1: Opfer bestimmter Gewalttaten 2 www.WALHALLA.de 17
Zunächst ist beim Schutz der „freien Willensentscheidung“ (die der Willensbetätigung vorgelagert ist) auch der Änderung der strafrechtlichen Anschauungen Rechnung zu tragen: So stellt § 177 Abs. 1 StGB mittlerweile für eine Strafbarkeit schon darauf ab, ob „gegen den erkennbaren Willen“ eines Menschen sexuelle Handlungen vorgenommen werden. Abs. 2 nimmt dabei auch Fälle auf, bei denen ein Täter es ausnutzt, dass jemand nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern oder aufgrund seines körperlichen oder psychischen Zustands diesbezüglich erheblich eingeschränkt ist; auch die Ausnutzung eines Überraschungsmoments wurde ebenso unter Strafe gestellt wie die Drohung mit einem empfindlichenÜbel. Der dahinterstehende Kerngedanke des „Nein heißt Nein“ kann als Richtschnur auch der Auslegung des § 13 Abs. 1 Nr. 2 zugrunde gelegt werden. Damit dürfte also jede Beeinträchtigung der Willensfreiheit (im Sinne der Willensentscheidung) grundsätzlich den Anwendungsbereich des SGB XIV eröffnen; weder körperlicher noch psychischer „Zwang“ im engeren Sinne sind dafür erforderlich. Dass das Verhalten „unmittelbar“ gegen eine Person gerichtet sein muss, bedeutet nicht zwingend, dass das Tatmittel unmittelbar gegen sie gerichtet sein muss. Das zeigt die Aufnahme des Tatbestandes des Menschenhandels (§ 232 StGB), zu dem die Begründung des Gesetzesentwurfs ausdrücklich vermerkt, dass damit auch Fälle umfasst seien, in denen sich z. B. die Androhung von Gewalt nicht nur gegen das Opfer, sondern gegen im Heimatland verbliebene Angehörige richtet7). Die Wirkung des Tatmittels richtet sich dadurch aber auch in solchenFällen unmittelbar gegen die Person. Weiter fordert der Gesetzgeber für psychische Gewalt ein „Verhalten“desTäters. Bereits unter Geltung des OEG war höchst umstritten und bis zuletzt in weiten Bereichen durch BSG-Rechtsprechung ungeklärt8), ob auch Unterlassen den Grundtatbestand erfüllen kann. Auch nach der Neufassung des SGB XIV bleibt dies nicht ganz unumstritten: So wird teilweise vertreten, dass für ein Verhalten ein aktives Tun zu fordern sei, wenngleich das jegliches (auch nicht tätliches) Einwirken sein könne.9) Die künftige Rechtsprechung des BSG dazu darf mit Spannung erwartet werden, wobei für die genannte Auf7) Vgl. BT-Drs. 19/13824, S. 176. 8) Zur unterlassenen Hilfeleistung i.S.d. § 323c StGB hatte das BSG demgegenüber bereits zweimal die Anwendbarkeit des OEG verneint, vgl. Urteil vom 10.11.1993 – 9 RVg 2/93 und Beschluss vom 12.06.2003 – B 9 VG 11/02 B. 9) Karl in: B. Schmidt, SGB XIV – Soziale Entschädigung, § 13 Rn. 70. Die Grundtatbestände für Leistungen 2 18 www.WALHALLA.de
fassung spricht, dass es andernfalls der expliziten Aufnahme der erheblichen Vernachlässigung von Kindern als Gleichstellungstatbestand in § 14 Abs. 1 Nr. 5 gar nicht bedurft hätte. Schließlich muss das Verhalten noch „schwerwiegend“ sein; ein Begriff, mit dem der Gesetzgeber die nähere Ausgestaltung letztlich komplett der Rechtsprechung übereignet. Zumindest werden in Abs. 2 wichtige Regelbeispiele hierfür genannt, und zwar die Tatbestände des sexuellen Missbrauchs (§§ 174–176d StGB), des sexuellen Übergriffs, der sexuellen Nötigung sowie der Vergewaltigung (§§ 177, 178 StGB), des Menschenhandels10) (§§ 232–233a StGB), der Nachstellung (§ 238 Abs. 2 und 3 StGB), der Geiselnahme (§ 239b StGB) undder räuberischen Erpressung (§ 255 StGB). Schon die Auflistung von Regelbeispielen zeigt: Der Katalog ist nicht abschließend–auch andereFällekönnen den Schutzbereich der Opferentschädigungeröffnen, wenn sie „mindestens von vergleichbarer Schwere“ sind. Hieran scheiden sich wieder die Geister: Einzelne Versorgungsverwaltungen der Länder wollen die „Schwere“ einschränkend aus dem Strafrahmen der Regelbeispiele ableiten undüberlegen, dies nur bei Delikten mit einer Freiheitsstrafe als Mindeststrafe anzunehmen. SolcheÜberlegungen scheitern aber bereits daran, dass dies etwa für den aufgelisteten § 233 Abs. 1 StGB gerade nicht gilt und dass der Gesetzgeber in seiner Begründung als weiteres denkbares Delikt auch Nachstellungen nach § 238 Abs. 1 StGB nennt11). Auch wird die Konkretisierung durch die Rechtsprechung abzuwarten sein, wobei schwer davon auszugehen sein dürfte, dass dort auf die berühmten „Umstände des Einzelfalls“ abgestellt werden wird. Mit der Aufnahme etwa der räuberischen Erpressung (§ 255 StGB) reagierte der Gesetzgeber auf die eingangs beschriebene Rechtsprechungsänderung des BSG im Jahr 2014: Nunmehr zählen auch wieder Fälle der Bedrohung mit einer Waffe bei Überfällen zur psychischen Gewalt, unabhängig von einem körperlichen Kontakt. Andere schädigende Verhaltensweisen fallen allerdings weiterhin weder unter den Begriff der Tätlichkeit noch unter den der psychischen Gewalt. Auch hierauf hat der Gesetzgeber reagiert und in § 14 10) Der Gesetzgeber zitiert hier ungenau: Es geht aufgrund der in Bezug genommenen Vorschriften neben dem Menschenhandel auch um die Tatbestände der Zwangsprostitution, der Zwangsarbeit, der Ausbeutung der Arbeitskraft sowie der Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung. 11) Vgl. BT-Drs. 19/13824, S. 176. Beide Delikte – § 233 Abs. 1 und § 238 Abs. 1 StGB – weisen keine solche Mindeststrafe auf. Grundtatbestand 1: Opfer bestimmter Gewalttaten 2 www.WALHALLA.de 19
sog. Gleichstellungen aufgenommen (siehe oben in der Übersicht). Besonderer Erwähnung bedürfen dabei insbesondere folgende gleichgestellte Fälle: Die erhebliche Vernachlässigung von Kindern (§ 14 Abs. 1 Nr. 5) ist nunmehr explizit genannt. Das BSG wies in der Vergangenheit darauf hin, dass nicht jede Vernachlässigung vom OEG geschützt werde, insbesondere nicht rein emotionale Vernachlässigungen.12) Auch die Aufnahme psychischer Gewalttaten in das SGB XIVändert an dieser Grundproblematik nichts, weil viele Vernachlässigungen nicht unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung gerichtet sind. Zudem ist der Tatbestand der Nr. 5 sehr unpräzise formuliert. So ist bereits nicht klar, ob mit „Kinder“ nur Menschen bis zur Vollendung der 14. Lebensjahres gemeint sind13) oder auch Jugendliche bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter. Eine direkte, tatbestandliche Bezugnahme auf § 225 StGB hat der Gesetzgeber vermieden. In der Begründung äußert er sich aber dahingehend, dass nur dauerhaftes, ausgeprägtes Fehlverhalten und erhebliches und eindeutig falsches Erziehungsverhalten erfasst werden sollen, etwa wenn Eltern nicht für das körperliche und psychische Wohl des Kindes sorgen, es sich selbstüberlassen, unzureichend ernähren oder medizinisch notwendige Hilfe verhindern.14) Dem Begriff der „Erheblichkeit“ wird beim Gesetzesvollzug voraussichtlich große Bedeutung zukommen; dies umfasst sowohl eine Erheblichkeit der Vernachlässigung in qualitativer (Intensität)als auch in quantitativer (zeitlicher) Hinsicht. § 14 Abs. 1 Nr. 6 nimmt zudem die Herstellung, Verbreitung undöffentliche Zugänglichmachung von Kinderpornografie nach § 184b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 3 und 4 StGB als Grundtatbestand auf, was ebenfalls Relevanz in Fällen hat, bei denen nicht bereits gleichzeitig tätliche Angriffe oder psychische Gewalt hierdurch vorliegen. § 14 Abs. 2 regelt nunmehr die sogenannten Schockschadensfälle. Diese waren früher ausschließlich auf Basis richterlicher Rechtsfortbildung bzw. weiterer Gesetzesauslegung durch das BSG unter der Begrifflichkeit der „Sekundäropfer“ anerkannt worden. Dieser Rechtsprechung folgend, unterscheidet der Gesetzgeber im SGB XIV zwei Gruppen: Zum einen Personen, die in Folge des Miterlebens der Tat oder des Auffindens des Opfers eine gesundheitliche Schädigung 12) BSG, Beschluss vom 23.03.2015 – B 9 V 48/14 B Rn. 26 m. w. N. 13) Hierfürplädierend Karl in: B. Schmidt, SGB XIV – Soziale Entschädigung, § 14 Rn. 25. 14) Vgl. BT-Drs. 19/13824, S. 176, 177. Die Grundtatbestände für Leistungen 2 20 www.WALHALLA.de
erlitten haben, zum anderen Menschen, die durch dieÜberbringung der Nachricht vom Tode oder der schwerwiegenden Verletzung des Opfers eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, wenn zwischen diesen Personen und dem Opfer im Sinne des § 13 oder des § 14 Abs. 1 eine enge emotionale Beziehung besteht. Eine solche Beziehung besteht nach Satz 3 in der Regel mit Angehörigen und Nahestehenden; die Formulierung lässt aber auch Raum für andereNäheund Zuneigungsverhältnisse. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch § 18, wonach der Anwendungsbereich der Sozialen Entschädigung auch dann eröffnetist, wenn eine Gewalttat nach § 13 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs (oder Anhängers) verübt wird. Die Norm ist insoweit eigentlichüberflüssig, weil dies unter § 13 fällt; aufgenommen wurde sie aus klarstellenden Gründen einfach deswegen, weil frühertätliche Angriffe durch Gebrauch eines Kfz nach § 1 Abs. 6 OEG explizit vom Schutzbereich ausgeschlossen waren. Die daneben unter Umständen zusätzlich bestehenden Ansprüche nach § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 PflVG (Entschädigungsfonds der Kfz-Pflichtversicherer) gehen nach § 120 SGB XIV aber kraft Gesetzes auf den Träger der SozE über, soweit Kongruenz besteht. Eine wichtige Änderung betrifft die Anspruchsberechtigung von Ausländern bei Taten (und Wohnsitz) im Inland. Bis 30. Juni 2018 gab es hier weitreichende Einschränkungen bzw. zusätzliche Voraussetzungen, vor allem mit Blick auf den Aufenthaltsstatus (§ 1 Abs. 4–7 OEG a. F.); diese wurden im Vorgriff auf das neue SGB XIV ab dem 1. Juni 2018 aber insoweit abgeschafft, als Ausländer nunmehr dieselben Ansprüche wie Deutsche haben sollten (§ 1 Abs. 4 OEG a. F.). In dieser Fassung wurde die Norm nunmehr auch als § 7 in das SGB XIV integriert. & Bei Schädigung im Inland, aber Wohnsitz des Opfers im Ausland erfolgt eine Leistungseinschränkung nach § 101. Hierdurch wird der Grundgedanke gewahrt, einen „Leistungsexport“ ins Ausland zu vermeiden, gleichzeitig wird er aber für bestimmte Leistungen aufgeweicht, die diese Menschen trotzdem erhalten. Auch hier gilt, dass die im Inland geschädigte, aber im Ausland lebende Person Ansprüche hat, egal ob es sich dabei um Deutsche oder Ausländer handelt. Interessant ist, dass auch Entschädigungszahlungen erbracht werden können, aber nur dann, wenn der Leistungszweck erreicht werden kann (was etwa dann nicht der Fall ist, wenn der Grundtatbestand 1: Opfer bestimmter Gewalttaten 2 www.WALHALLA.de 21
Auslandsstaat diese Zahlungen auf eigene Sozialleistungen anrechnet). Zahlungen gibt es auch dann nicht, wenn der ausländische Staat seinerseits subsidiäre Entschädigungsleistungen wegen der Gewalttat erbringt (vgl. zum Ganzen: § 101 Abs. 6 und Kapitel 4.11). & Bei Schädigungen im Auslandwird der bisherige § 3a OEG abgelöst durch § 15. Voraussetzung ist ein gewöhnlicher und rechtmäßiger Aufenthalt im Geltungsbereich des SGB XIV und ein Aufenthalt im Ausland zum Tatzeitpunkt für einen vorübergehenden Zeitraum von längstens sechs Monaten. Leistungen gibt es wie bisher nur im „abgespeckten“ Umfang nach § 102, wobei hier noch einmal zu unterscheiden ist zwischen Geschädigten (§ 102 Abs. 2–5) und Angehörigen sowie Hinterbliebenen (§ 102 Abs. 6). Wichtigster Unterschied zur Regelversorgung ist weiterhin der Umstand, dass keine laufenden Entschädigungsleistungen erbracht werden, sondern Einmalzahlungen. Der Unterschied im Leistungsumfang begründet sich zwanglos damit, dass dem deutschen Staat im Ausland schwerlich der Vorwurf gemacht werden kann, er habe seine Garantenpflicht nicht erfüllt; leistungsbegründend ist hier ausschließlichder Fürsorgegedanke. Näheres hierzu: vgl. Kapitel 4.12. Neu strukturiert hat der Gesetzgeber das Recht der Leistungsausschlüsse und Leistungsversagungen. Gab es bisher in § 2 OEG nur die Möglichkeit der Versagung (nach Abs. 1 als Pflichttatbestand bei Selbstverursachung der Schädigung oder Unbilligkeit der Entschädigung, nach Abs. 2 als Ermessenstatbestand bei Unterlassung der Förderung der Sachverhaltsaufklärung oder der Täterverfolgung), sieht das Gesetz nunmehr in § 16 echte Ausschlussgründe und in § 17 Versagungsgründevor. Die Ausschlussgründe des § 16 führen dazu, dass der Leistungsanspruch von vornherein nicht besteht (negative Leistungsvoraussetzung; die Verwaltung trägt für das Bestehen die objektive Beweislast)15). Dies ist nach Abs. 1 dann der Fall, wenn der Geschädigtedas schädigende Ereignis in vorwerfbarer Weise verursacht hat. Nur klarstellend hat der Gesetzgeber nunmehr den Begriff der Vorwerfbarkeit der Verursachung aufgenommen, was einen subjektiven Sorgfaltsmaßstab erfordert; wie bisher muss es sich um eine wesentliche (Mit-)Bedingung für die Schädigung handeln, d. h., Täter- und Opferhandlung müssen nach Bedeutung und Umfang vergleichbar sein 15) Zum Ganzen: Karl in: B. Schmidt, SGB XIV – Soziale Entschädigung, § 16 Rn. 38 m. w. N. Die Grundtatbestände für Leistungen 2 22 www.WALHALLA.de
und es darf keine wesentliche zeitliche Zäsur bestehen16). Nach Abs. 2 sind Leistungen so zu erbringen, dass sie nicht der Person wirtschaftlich zugutekommen, die das schädigende Ereignis verursacht hat. Kann eine solche mittelbare Täterbegünstigung nicht verhindert werden, besteht im Umkehrschluss ein Leistungsausschluss. Die Versagungsgründe des § 17 sind zweigeteilt: Der Pflichttatbestand einer Versagung liegt künftig vor, wenn es aus in dem eigenen Verhalten der Antragsteller liegenden Gründen unbillig wäre, Leistungen der Sozialen Entschädigung zu erbringen. Abs. 2 ist demgegenüber als Ermessenstatbestand ausgestaltet: Leistungen können ganz oder teilweise versagt werden, wenn Geschädigte es unterlassen haben, das ihnen Mögliche und Zumutbare zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Verfolgung des Täters beizutragen. Dabei merkt der Gesetzgeber selbst in der Gesetzesbegründung schon an, dass eine Mitwirkung auch unzumutbar sein kann, etwa bei einer verwandtschaftlichen, ehelichen oder eheähnlichen Beziehung zum Täter, bei zugroßer Belastung durch eine Strafanzeige oder bei Minderjährigkeit der Geschädigten.17) FürSekundäropfer(Angehörige, Hinterbliebene, Nahestehende) hält das SGB XIV in den §§ 19 und 20 eigenständige Ausschluss- und Versagungstatbestände vor. Diese greifen – unter denselben Voraussetzungen wie bei den §§ 16 und 17 – dann, wenn die Ausschluss- oder Versagungsgründe entweder in der eigenen Person der Antragsteller (Sekundäropfer) oder in der Person des Primäropfers liegen. Letzteres führt zwar – gerade bei den Ausschlusstatbeständen und der Pflichtversagung – zu einem Durchschlagen der Gründe; allerdings ist bei den Ermessensversagungen eine eigenständige Ermessensentscheidung vorzunehmen, die den individuellen Umständen Rechnung tragen muss und ein anderes Ergebnis rechtfertigen kann. 16) Vgl. BSG, Urteil vom 29.03.2007 – B 9a VG 2/05 R Rn. 13 m. w. N. 17) Vgl. BT-Drs. 19/13824, S. 178. Grundtatbestand 1: Opfer bestimmter Gewalttaten 2 www.WALHALLA.de 23
4.4 Leistungen bei Pflegebedürftigkeit Die bislang nach altem Recht (§§ 9 Abs. 1 Nr. 3, 35 BVG) geltende Pflegezulage wird in dieser Form abgeschafft und im SGB XIV durch ein eigenständiges Pflegesystem ersetzt, das aber nah am SGB XI ist bzw. hieraus immer wieder Anleihen nimmt. So gibt es den eigenständigen Begriff der Hilflosigkeit nicht mehr; stattdessen wird in § 72 für den Begriff der Pflegebedürftigkeit und für die Einordnung in Pflegegrade auf das SGB XI verwiesen. Wie § 73 zeigt, kann aber – in Abweichung zum SGB XI – auch eine Pflegebedürftigkeit relevant sein, die prognostisch weniger als sechs Monate besteht; dann können (Ermessen!) Kosten im Umfang der Leistungen nach Kapitel 7 des SGBXII übernommen werden (dies gilt nicht, wenn die Pflege durch ein Arbeitgebermodell nach § 76 sichergestellt wird). LiegteineEntscheidung der Pflegekasseüber den Pflegegrad vor, so ist sie für die zuständige Verwaltungsbehörde bindend (§ 72 Abs. 1 Satz 1). Liegt eine Entscheidung nicht vor, so wirkt die zuständige Verwaltungsbehörde auf eine unverzügliche Entscheidung der Pflegekasse hin (Satz 2). Kommt ein Anspruch nach dem SGB XI dagegen gar nicht erst in Betracht, so ermittelt die zuständige Verwaltungsbehörde nach Abs. 3 den Pflegegrad in eigener Verantwortung und kann sich dabei sachverständiger Dritter (also im Regelfall des MDK bzw. MD) bedienen. Grundvoraussetzung ist nach § 71 Abs. 1, dass die Pflegebedürftigkeit schädigungsbedingt ist; es gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung. DerLeistungsumfangist im Bereich des SGB XIV dabei deutlich besser, wie § 74 zeigt: Denn neben den eigentlichen Leistungen nach Kapitel 4 SGB XI (Verweisung in Nr. 1) stehen nach Nr. 2 und 3 zusätzlich auch die ergänzenden Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nach § 75 und die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit im Arbeitgebermodell nach § 76 zur Verfügung. Übersicht zu den Leistungen nach § 74 Nr. 1: Das neue Leistungsrecht der SozE 4 56 www.WALHALLA.de
§28 SGBXI Umfang der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nach Kapitel 4 des SGB XI Nr. 1 Pflegesachleistung (§ 36) Nr. 2 Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen (§ 37) Nr. 3 Kombination von Geldleistung und Sachleistung (§ 38) Nr. 4 Häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson (§39) Nr. 5 Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen (§40) Nr. 6 Tagespflege und Nachtpflege (§ 41) Nr. 7 Kurzzeitpflege (§ 42) Nr. 8 Vollstationäre Pflege (§ 43) Nr. 9 Pauschalleistung für die Pflege von Menschen mit Behinderungen (§ 43a) Nr. 9a Zusätzliche Betreuung und Aktivierung in stationären Pflegeeinrichtungen (§ 43b) Nr. 10 Leistungen zur sozialen Sicherung der Pflegepersonen (§44) Nr. 11 Zusätzliche Leistungen bei Pflegezeit und kurzzeitiger Arbeitsverhinderung (§ 44a) Nr. 12 Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen (§ 45) Nr. 12a Umwandlung des ambulanten Sachleistungsbetrags (§45a) Nr. 13 Entlastungsbetrag (§ 45b) Nr. 14 Leistungen des Persönlichen Budgets nach § 29 SGB IX Nr. 15 Zusätzliche Leistungen für Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen (§ 38a) Nr. 16 Ergänzende Unterstützung bei Nutzung von digitalen Pflegeanwendungen (§ 39a) und digitale Pflegeanwendungen (§ 40a) Nr. 17 Leistungsanspruch beim Einsatz digitaler Pflegeanwendungen (§ 40b) Leistungen bei Pflegebedgrftigkeit 4 www.WALHALLA.de 57
Darüber hinaus gewährt das SGB XIV bei Vorliegen der Voraussetzungen zudem ergänzende Leistungen bei Pflegebedürftigkeit (§§ 74 Nr. 2, 75). Das bedeutet, dass die notwendigen und angemessenen Kosten für schädigungsbedingte Pflegebedarfe, welche über die Leistungen des SGB XI hinausgehen, übernommen werden. Dies gilt jedoch nur bei den in § 75 Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich aufgezählten Leistungsarten. Abs. 2 und 3 regeln weitere Beteiligungen. Nach Abs. 4 werden für (nicht krankenversicherte) Geschädigte die Beiträge zur Pflegeversicherungübernommen. Nach Abs. 5 erhalten auch Geschädigte, die weder nach dem SGB XI versichert sind noch nach beamtenrechtlichen Vorschriften einen Anspruch auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit haben, die Leistungen des Kapitels 4 des SGB XI sowie die ergänzenden Leistungen nach § 75 Abs. 1. Stellen Geschädigte die häusliche Pflege durch von ihnen beschäftigte besondere Pflegekräfte auf Grundlage eines Arbeitsvertrages sicher (Arbeitgebermodell), so werden ihnen die hierfür erforderlichen und angemessenen Kosten nach §§ 74 Nr. 3, 76 Abs. 1 erstattet, wobei das Pflegegeld nach § 37 SGB XI angerechnet wird. Auch Kosten der Beschäftigung von Ehegatten sowie Eltern werden Berechtigten erstattet, wenn dadurch eine fachgerechte Pflege gewährleistet ist. Abs. 2 erweitert die Kostenübernahme für eine besondere Pflegekraft für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, selbst wenn Geschädigte stationär behandelt werden (ggf. ist sogar eine Erstattung über diesen Zeitraum hinaus unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls möglich). Eine Besonderheit gibt es auch hier bei der Abwicklungzu beachten (§ 77): Rechtlich verantwortlicher Leistungserbringer für diese Leistungen ist zwar insgesamt der zuständigeTräger der SozE (Abs. 1). Für Geschädigte, die Mitglied einer Pflegekasse oder nach § 25 SGB XI familienversichert sind, erbringt nach Abs. 2 ihre Pflegekasse für die zuständige Verwaltungsbehörde die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nach § 74 Nr. 1 und § 75 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 (s. o.). FürGeschädigte, die dagegen weder nach dem SGB XI versichert sind noch nach beamtenrechtlichen Vorschriften einen Anspruch auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit haben, erbringt nach Abs. 3 die Pflegekasse, die der Krankenkasse ihrer Wahl gemäß § 57 Abs. 3 entspricht, für die zuständige Verwaltungsbehörde die Leistungen nach § 74 Nr. 1 und § 75 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3. Dementsprechend werden nur die übrigen Leistungen nach §§ 75, 76 vom zuständigen Träger der SozE selbst erbracht. Das neue Leistungsrecht der SozE 4 58 www.WALHALLA.de
Das bedeutet weiter: Sofern nicht der Träger der SozE zuständig ist, entscheidet zunächst die o. g. andere Behörde über die Leistungen und erlässt dazu einen Bescheid. Erst imWiderspruchsverfahrenerfolgt dann nach § 78 wieder eine einheitliche Entscheidung der Widerspruchsstelle des Trägers der SozE, gegen die dann ggf. Klage zum Sozialgericht erhoben werden kann. 4.5 Leistungen bei hochgradiger Sehbehinderung, Blindheit und Taubheit Ist als Schädigungsfolge hochgradige Sehbehinderung nach Teil A Nr. 6 Buchstabe der VMG eingetreten, erhalten Geschädigtegemäß § 82 Abs. 1 unabhängig vom Lebensalter die Hälfte des Betrags nach § 72 Abs. 2 SGB XII, der für blinde Menschen nach Vollendung des 18. Lebensjahres geleistet wird. Istals SchädigungsfolgeBlindheit nach Teil A Nr. 6 Buchstabe a–c der VMG eingetreten, erhalten Geschädigte unabhängig vom Lebensalter den vollen Betrag nach § 72 Abs. 2 SGB XII, der für blinde Menschen nach Vollendung des 18. Lebensjahres geleistet wird. § 72 Abs. 5 SGB XII gilt dabei entsprechend. Besteht als Schädigungsfolge Taubblindheit im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 8 Schwerbehindertenausweisverordnung, erhalten Geschädigte unabhängig vom Lebensalter den zweifachen Betrag nach § 72 Abs. 2 SGB XII, der für blinde Menschen nach Vollendung des 18. Lebensjahres geleistet wird. Alle genannten Leistungen sind nach Abs. 4 vorrangig gegenüber landesrechtlichen Leistungen für blindheitsbedingte Mehraufwendungen. 4.6 Entschädigungszahlungen Im Vergleich zur Rechtslage unter Geltung des BVG nahm der Gesetzgeber im Bereich der neuen Entschädigungszahlungen maßgebliche Korrekturen vor. Insbesondere wurden die Leistungsarten radikal vereinfacht. So wurde etwa aus der bisherigen Grundrente eine monatliche Entschädigungszahlung, die frühere Ausgleichsrente entfällt ersatzlos. War die Ausgleichsrente noch einkommensabhängig, ist dies bei den Entschädigungszahlungen nicht mehr der Fall, zudem besteht komplette Anrechnungsfreiheit etwa auf GrundsiEntsch-digungszahlungen 4 www.WALHALLA.de 59
cherungsleistungen. Wie bisher hängt die Höhe der Leistungen für Geschädigte vom Grad der Schädigungsfolgen ab. GdS-Höhe Höhe der monatlichen Entschädigung in Euro (Geschädigte; Stand 01.01.2024) 0 0 10 0 20 0 30 400 40 400 50 800 60 800 70 1.200 80 1.200 90 1.600 100 2.000 (zzgl. 20 % bei schwersten Schädigungsfolgen) Die 20-prozentige Erhöhung bei einem GdS von 100 tritt nicht automatisch ein, sondern nur beim Vorliegen schwerster Schädigungsfolgen. Dazu benennt § 83 Abs. 2 Satz 1 die Fälle blinder Ohnhänder oder Geschädigter mit Verlust beider Arme im Oberarm und beider Beine im Oberschenkel; Satz 2 führt die weiteren Regelbeispiele der Querschnittsgelähmten mit Blasen- und Mastdarmlähmung, der Hirnbeschädigten mit schweren psychischen und physischen Störungen, der Ohnhänder mit Verlust beider Beine im Oberschenkel, der blinden Doppel-Oberschenkelamputierten und der Blinden mit völligem Verlust einer oberen und einer unteren Gliedmaße. Dass dies nicht abschließend ist, macht Satz 3 deutlich, wobei für eine Zulage auf jeden Fall Vergleichbarkeit mit den genannten Fallgruppen bestehen muss, was nach der Auffassung des Gesetzgebers36)nur inBetracht kommt bei einer Kombination schwerster Schädigungsfolgen, die zudem in einem ungünstigen Wechselverhältnis zueinander stehen; dieses bestehe zwar auch bei Taubblinden, wobei deren besonderer Situation bereits durch die Höhe der Leistung des § 82 Abs. 2 36) BT-Drs. 19/13824, S. 207. Das neue Leistungsrecht der SozE 4 60 www.WALHALLA.de
Rechnung getragen werde, sodass hier keine zusätzliche Erhöhung der monatlichen Entschädigungszahlung in Betracht komme. Die oben aufgeführten Entschädigungszahlungen sind grundsätzlich unbefristet, solange der entsprechende GdS besteht, d. h. bis zu einer etwaigen Nachprüfung, die zu einer Herabsetzung führt. Die Zahlungen enden auch nicht mit Eintritt ins Regelrentenalter, was insofern konsequent ist, als es auch bei der Bemessung des GdS nicht um berufliche Beeinträchtigungen geht, sondern um die allgemeinen Auswirkungen in allen Lebensbereichen (§ 5 Abs. 1 Satz 1). Gleichwohl wird mit § 84 eine Möglichkeit der Kapitalisierung (Abfindung) eröffnet, die im Vergleich zum bisherigen Recht (§§ 72 ff. BVG) weitaus weniger eng ist. Voraussetzung ist lediglich eine Berechtigung zum Erhalt der Entschädigungszahlung nach § 83 und ein Antrag auf Kapitalisierung innerhalb eines Jahres nach Bewilligung der Entschädigung. So einfach das klingen mag, so wenig ist dem Gesetzgeber die Formulierung geglückt: Denn es fragt sich, ob sich die Jahresfrist zum Kapitalisierungsantrag nur auf die Bewilligung eines Erstantrages bezieht37) oder ob sie auch in späterenFünf-JahresAbschnitten greift (wofür wiederum nur dann ein Anknüpfungspunkt bestehen könnte, wenn nach § 48 SGB X eine geänderte Weiterbewilligung erfolgt). Unabhängig davon ist diegesetzliche Risikoverteilungzu beachten: DerGeschädigteerhält zwar nach § 84 Abs. 2 Satz 1 das 60-Fache der monatlichen Entschädigungsleistung (Satz 2: unter Anrechnung etwa schon erhaltener monatlicher Entschädigungszahlungen). Allerdings sind nach Abs. 3 damit auch alle Ansprüche auf monatliche Entschädigungsleistungen für die Dauer von fünf Jahren abgegolten (selbst im Falle einer Verschlimmerung der Schädigungsfolgen in diesem Zeitfenster). Umgekehrt muss die Behörde für den Fall einer denkbaren Besserung der Schädigungsfolgen auch rechtzeitig eine Nachprüfung in die Wege leiten und ggf. verbescheiden, da ansonsten die Geschädigten durch einen schnellen zweiten Antrag auf Kapitalisierung für weitere fünf Jahre Leistungen erhalten können. Denn es ist stets zu beachten: Durch eine Kapitalisierung erfolgt keine befristete Leistungserbringung; vielmehr gewährt der Bewilligungsbescheid auf Entschädigungszahlungen unbefristete Leistungen, die nicht einfach nach fünf Jahren enden. Letztlich müssen also die Be37) So im Ergebnis wohl Weber in: B. Schmidt, SGB XIV – Soziale Entschädigung, § 84 Rn. 5. Entsch-digungszahlungen 4 www.WALHALLA.de 61
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