Grundlagen - SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe

Grundlagen – SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe Christoph Knödler Textausgabe mit praxisorientierter Einführung • Unterstützung durch Verfahrenslotsen • Neue Kostenbeitragsberechnung DNWXDOLVLHUWH $XʴDJH

ISBN 978-3-8029-7240-9 € 14,95 [D] • AKTUELL • PRAXISGERECHT • VERSTÄNDLICH WISSEN FÜR DIE PRAXIS Rechtsgrundlagen kennen, verstehen und anwenden! Diese Arbeitshilfe enthält den aktuellen Gesetzestext des Achten Buches Sozial- gesetzbuch (SGB VIII), der Kostenbeitragsverordnung sowie des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KGG). Die Einführung gibt einen fundierten Überblick zum Recht der Kinder- und Jugendhilfe: • Grundbegriffe und Grundsätze • Rechte und Ansprüche von Kindern, Jugendlichen, Eltern • Leistungen und Angebote der Jugendhilfeträger • Aufgaben und Steuerungsverantwortung des Jugendamts • Handlungsbefugnisse und Eingriffsmöglichkeiten bei Kindeswohlgefährdung • Trägerlandschaft, Zuständigkeiten • Kostenbeteiligung, Einkommensberücksichtigung Zahlreiche Schaubilder veranschaulichen die rechtlichen Zusammenhänge. Ideal geeignet, um sich in das Rechtsgebiet einzuarbeiten, für Aus- und Fortbildungen sowie zum schnellen Nachschlagen in der Praxis. Prof. Dr. jur. Christoph Knödler, vormals Richter am Verwaltungsgericht Regensburg, lehrt Recht an der Hochschule Regensburg, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften. www.WALHALLA.de

Schnellübersicht Seite Vorwort Abkürzungen 7 9 Aufgaben, Grundbegriffe und Grundsätze 11 1 Leistungen der Jugendhilfe 37 2 Andere Aufgaben der Jugendhilfe 77 3 Träger, Zuständigkeiten, Kostenbeteiligung 101 4 Gesetzliche Grundlagen (SGB VIII, KostenbeitragsV, KKG) 117 5

Vorwort Das Sozialgesetzbuch (SGB) – Achtes Buch (VIII) – Kinder- und Jugendhilfe, so die offizielle Bezeichnung des SGB VIII, zähltzumübergreifenden Sozialgesetzbuch als Gesamtheit der zentralen Sozial(leistungs-)gesetze (vgl. auch § 68 SGB I). Angesichts der chronischen Kompliziertheit des Sozialrechts zeichnet sich das SGB VIII durch seine strukturelle Offenheit für regelmäßige und dynamische Fortentwicklungen aus und es steht wie kaum ein anderes Sozialleistungsgesetz im Fokus rechtspolitischer Neuerungen, selbstorganisierter Zusammenschlüsse und innovativer Initiativen. Dies ist zum einen auf die besonderen Werte zurückzuführen, deren Erhalt das SGB VIII dient – es gilt, Kinder, Jugendliche, junge Volljährige, Eltern und Familien zu unterstützen, zu fördern und zu schützen. Zum anderen können Unterstützung, Förderung und Schutz sowie ihr Versprechen nur dann wirksam eingelöst werden, wenn sie sich an der aktuellen Wirklichkeit orientieren und wenn erkannte Defizite in bedingungsloser Klarheit durch zeitgemäßeund zukunftsorientierte Angebote und Anforderungen ausgeglichen werden. Obwohl das SGB VIII also die Zukunft in kinder- und jugendpolitischer Hinsicht grundsätzlich mitgestaltet, ist es in der breitenÖffentlichkeit wenig bekannt. Neben sachlichen undörtlichen Zuständigkeiten der Jugendämter und dem Zuständigkeitsverhältnis zu anderen sozialen Leistungen regelt dieser Teil des Sozialgesetzbuches für die Gesellschaft und deren Wohlergehen maßgebliche und praxisrelevante Bereiche wie z. B. & Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, erzieherischer Kinder- und Jugendschutz, & Förderung der Erziehung in der Familie, & Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege, & Familienhilfen in Krisensituationen, & Hilfe zur Erziehung und ergänzende Leistungen, & Hilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung, & Hilfe für junge Volljährige und Nachbetreuung, & Einzelbetreuung von Jugendlichen mit sozialen Defiziten oder auch www.WALHALLA.de 7

& Handlungsbefugnisse bei Kindeswohlgefährdung, insbesondere die Inobhutnahme von gefährdeten Kindern und Jugendlichen. Darüber hinaus regelt das SGB VIII administrative Aufgaben der Jugendämter, wie etwa Mitwirkung der Jugendhilfe in Gerichtsverfahren, Beteiligung bei Beistandschaft, Pflegschaft und Vormundschaft, Führung eines Sorgerechtsregisters, Beglaubigungen und Beurkundungen und Kostentragung. DieEinführung soll einen konzentriertenÜberblick und eine grundlegende Orientierung zum Recht der Kinder- und Jugendhilfe geben. Es wird empfohlen, begleitend dazu den in Kapitel 5 abgedruckten Vorschriftentext (Rechtsstand: 01.01.2024) zu lesen, um ein tieferes Verständnis zu Aufbau, Inhalten und Wirkweisen des SGB VIII zu gewinnen. Prof. Dr. Christoph Knödler 8 www.WALHALLA.de

Verfassungsrechtliche Grundlagen Seinen verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt nimmt das SGB VIII insbesondere in Art. 6 Grundgesetz (GG). Die Vorschrift lautet: „(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Art. 6 Abs. 1 GG umfasst also & ein Grundrecht, d. h. die Gewährleistung eines autonomen Bereichs spezifischer privater Lebensführung für Ehe und Familie und ein Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen, & eine sog. Institutsgarantie, d. h. die Gewährleistung des Bestands und der wesentlichen Strukturen von Ehe und Familie, und & eine sog. wertentscheidende Grundsatznorm, d. h. eine verbindliche verfassungsrechtliche Wertentscheidung für die Ehe und fürdieFamilie; daraus folgt nicht nur das Verbot, Ehe und Familie zu schädigen oder zu beeinträchtigen, sondern auch das Gebot, Ehe und Familie zu schützen und durch staatliche Leistungen zu fördern. ImVerhältnis zu Art. 6 Abs. 1 GG stellt sich Art. 6 Abs. 2 GG als speziellere Regelung für den Schutz der Eltern in ihren Beziehungen zu den Kindern dar und ist insoweit vorrangig – das Erziehungsrecht und die Erziehungspflicht der Eltern eines Kindes sind nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG grundgesetzlich geschützt. Gleichzeitig bestellt die Verfassung in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG den Staat zum Wächter über die elterliche Erziehung und damitüber das Wohl des Kindes für den Fall, dass die Grenzen der zulässigen elterlichen Erziehungüberschritten werden oder eine solche Grenzüberschreitung droht. Der elterliche Erziehungsprimat ist solchermaßen vom sog. staatlichen Wächteramt überlagert – im Zentrum aller Bemühungen steht das Wohl des Kindes; an dieser Stelle setzt die Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII ein. Vor diesem Hintergrund umfasst das staatliche Wächteramt insbesondere: & Kontrollen, z. B. zur Einhaltung von Kindervorsorgeuntersuchungen, Schulpflicht und Medienschutz, 1 12 www.WALHALLA.de

& Eingriffe, z. B. Inobhutnahmen und (Initiativen zur) Entziehung des Sorgerechts, & Prävention, z. B. Öffentlichkeitsarbeit, Schulungen von Lehrkräften sowie Erzieherinnen und Erziehern zum Thema „Kinderschutz“, Elternkurse und sog. Frühe Hilfen (vgl. § 1 Abs. 4 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG)). Überhaupt wird das grundgesetzliche Wächteramt mithilfe des bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilferechts verwirklicht, vor allem & durch das sog. Kindschaftsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), z. B. Bestimmungenüber Mutterschaft und Vaterschaft, vgl. §§ 1591 ff. BGB, oder Unterhaltspflichten, vgl. §§ 1601 ff. BGB, und & durch das Kinder- und Jugendhilferecht nach dem SGB VIII (vgl. auch § 1 Abs. 2 SGB VIII) und & entsprechende legislative Fortentwicklungen, z. B. das zum 01.01.2012 in Kraft getretene Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) und in dessen Rahmen das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), das zum 01.11.2015 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuungausländischer Kinder und Jugendlicher, das zum 22.07.2017 in Kraft getretene Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen, das zum 01.01.2019 in Kraft getretene Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung (Gute-KitaGesetz) oder auch das zum 10.06.2021 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG)) oder auch das zum 01.01.2023 in Kraft getretene Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts. Wichtig: Bis zur – mitunter kaum mehr erträglichen – Grenze des elterlichen Erziehungsrechts, das ein Grundrecht und da es ein Grundrecht darstellt (vgl. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), muss der Staat individuelle elterliche Erziehungsmethoden hinnehmen. Aufgaben und Ziele der Kinder- und Jugendhilfe Zentraler Anknüpfungspunkt der Kinder- und Jugendhilfe ist ebenso wie bei allen Fragen der elterlichen Sorge das Kindeswohl. Als sog. unbestimmter Rechtsbegriff wird das Kindeswohl vonseiten des Ge1 www.WALHALLA.de 13

setzgebers bewusst nicht weiter inhaltlich konkretisiert und bedarf damit der Auslegung im konkreten Einzelfall. Was auf den ersten Blick als Erschwernis erscheinen mag, wird auf den zweiten Blick verständlich: Infolge der begrifflichen Unbestimmtheit bleibt das Recht flexibel auf eine Vielzahl unterschiedlicher Fallkonstellationen anwendbar und gleichzeitig können neueste Erkenntnisse in der Kinder- und Jugendhilfe ohne langwieriges Gesetzgebungsverfahren unmittelbar berücksichtigt werden. Regelmäßig wird die Bestimmung des Kindeswohls dann besonders bedeutsam, wenn es um seine Gefährdung geht, d. h., wenn bei der weiteren Kindesentwicklung eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls „mit ziemlicher Sicherheit“ vorhersehbar ist. Positiv formuliert umfasst das Kindeswohl jedenfalls das gesamte Wohlergehen eines Kindes oder einer bzw. eines Jugendlichen und ihre bzw. seine gesunde Entwicklung. Folglich schreibt § 1 Abs. 1 SGB VIII fest: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigenPersönlichkeit.“ Diese Rechte auf Förderung und Erziehung zu verwirklichen, ist Aufgabederöffentlichen Kinder- und Jugendhilfe. Dabei soll sie nach § 1 Abs. 3 SGB VIII insbesondere „1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, 2. jungen Menschen ermöglichen oder erleichtern, entsprechend ihrem Alter und ihrer individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können, 3. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen, 4. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, 5. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“. Um diesen Zielvorgaben gerecht werden zu können, präzisiert § 2 SGB VIII die Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe und unterscheiAufgaben, Grundbegriffe und Grundsätze 1 14 www.WALHALLA.de

det dabei zunächst zwischen den sog. Leistungen (vgl. §§ 11–41a SGB VIII) und den sog. anderen Aufgaben zugunsten junger Menschen und Familien (vgl. §§ 42–60 SGB VIII). Somit lassen sich die Aufgaben deröffentlichen Jugendhilfe wie folgt unterteilen: Aufgaben der Jugendhilfe Im Rahmen der Leistungen finden sich gemäߧ 2 Abs. 2 SGB VIII insbesondere & Angebote der Jugendarbeit (vgl. § 11 SGB VIII), z. B. außerschulische Jugendbildung, der Jugendsozialarbeit (vgl. § 13 SGB VIII), z. B. mobile Jugendarbeit/Streetwork, und der Schulsozialarbeit (vgl. § 13a SGB VIII), z. B. Förderung der sozialen Integration, & Angebote zur Förderung der Erziehung in der Familie (vgl. §§ 16 ff. SGB VIII), z. B. Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung (vgl. § 17 SGB VIII) sowie Beratung und Unterstützung bei derAusübung der Personensorge und des Umgangsrechts (vgl. § 18 SGB VIII), & Angebote zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege (vgl. §§ 22 ff. SGB VIII), z. B. in einem Kindergarten oder Schulhort (vgl. § 22a SGB VIII), & Hilfe zur Erziehung (vgl. §§ 27 ff. SGB VIII; s. a. S. 55), z. B. Erziehungsberatung (vgl. § 28 SGB VIII) und sozialpädagogische Familienhilfe (vgl. § 31 SGB VIII), & Hilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche und ergänzende Leistungen (vgl. §§ 35a ff. SGB VIII), z. B. Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder drohender seelischer Behinderung (vgl. § 35a SGB VIII) und Leistungen Aufgaben und Ziele der Kinder- und Jugendhilfe 1 www.WALHALLA.de 15

zum Unterhalt des Kindes oder der bzw. des Jugendlichen (vgl. § 39 SGB VIII), sowie & Hilfe für junge Volljährige (vgl. § 41 SGB VIII), z. B. therapeutische Leistungen (vgl. § 41 Abs. 2 i. V. m. § 27 Abs. 3 SGB VIII analog), und Nachbetreuung (vgl. § 41a SGB VIII), z. B. Hilfe bei Arbeits- und Ausbildungsangelegenheiten. Zuständig für die Leistungen sind grundsätzlich die sog. Träger der öffentlichen Jugendhilfe, z. B. das Jugendamt, und weiter (zur Ausführung) die sog. Träger der freien Jugendhilfe, z. B. & der Deutsche Caritasverband e. V., & die Diakonie Deutschland – Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V., & der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e. V., & die Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V., & das Deutsche Rote Kreuz e. V., & der Deutsche Bundesjugendring, & der Internationale Bund (IB) Freier Träger der Bildungs-, Jugendund Sozialarbeit e. V. oder auch & das SOS-Kinderdorf e. V. Für gewöhnlich werden die Leistungen von den freien Trägern erbracht. Trotz ihrer Gesamtverantwortung (vgl. § 79 SGB VIII) sollen die Träger der öffentlichen Jugendhilfe gemäß § 4 Abs. 2 SGB VIII von eigenenMaßnahmen absehen, soweit die freien Träger fachlich gleichermaßenfür die Aufgabenerfüllung geeignet sind. Im Bereich der anderen Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe sind nach § 2 Abs. 3 SGB VIII etwa die & Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen (vgl. § 42 SGB VIII), & Erteilung einer Erlaubnis zur Kindertagespflege (vgl. § 43 SGB VIII), & Mitwirkung in Verfahren vor den Familiengerichten (vgl. § 50 SGBVIII), & Beratung in Adoptionsverfahren (vgl. § 51 SGB VIII), & Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) (vgl. § 52 SGB VIII), Aufgaben, Grundbegriffe und Grundsätze 1 16 www.WALHALLA.de

& Beratung und UnterstützungvonMüttern bei der Vaterschaftsfeststellung und der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen (vgl. § 52a SGB VIII) oder auch & Beistandschaft, Pflegschaft und Vormundschaft (vgl. § 55–57 SGBVIII) verortet. Wichtig: Bei den anderen Aufgaben nimmt das Jugendamt zumeist Funktionen des staatlichen Wächteramts wahr, sodass Maßnahmen auch gegen den Willen der oder des Betroffenen ergriffen werden können, z. B. eine Inobhutnahme oder die Weitergabe spezifischer Informationen an das Familiengericht. Begriffsbestimmungen In § 7 Abs. 1 SGB VIII finden sich zentrale Begriffsbestimmungen für dieöffentliche Kinder- und Jugendhilfe. So ist & Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist (soweit § 7 Abs. 2–4 SGB VIII nichts anderes bestimmt), & Jugendliche bzw. Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, & junge Volljährige bzw. junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist und & junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist. Gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII sind Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und junge Menschen mit Behinderungen & Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungsund umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine solche Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (vgl. § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII; s. a. zum Begriff der Behinderung § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX sowie Art. 1 Satz 2 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)). 1 www.WALHALLA.de 17

Durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) wurde der Begriff der Behinderung in § 2 SGB IX mit Geltung ab 01.01.2018 der UN-BRK und damit der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) angepasst. Mit dieser Neudefinition kommt zum Ausdruck, dass sich die Behinderung erst durch die gestörte oder nicht entwickelte Interaktion zwischen dem Individuum und seiner materiellen und sozialen Umwelt manifestiert. Sie orientiert sich dabei am bio-psycho-sozialen Modell der ICF, das Behinderung ebenfalls als Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen Gesundheitsproblemen und den personen- und umweltbezogenen Kontextfaktoren definiert. Der spezifizierte Begriff der seelischen Behinderung wird in § 35a SGB VIII (s. S. 63) gesondert definiert. Leitvorstellungen und Grundsätze Dem SGB VIII liegen bestimmte, gerade auch (sozial)pädagogische Leitvorstellungen der Kinder- und Jugendhilfe zugrunde, etwa: & Lebenswelt- und Lebenslagenorientierung, & Prävention, & Hilfe zur Selbsthilfe, & Gleichberechtigung, & Dezentralisierung, & Ganzheitlichkeit, & Integration und Inklusion, & Angebotscharakter der Leistungen, & Beteiligung der Klientinnen und Klienten sowie & Vielfalt und Vernetzung der Angebote. Diese Leitvorstellungen spiegeln sich auch in den Prinzipien wider, die das SGB VIII tragen und die für seine Wirkweisen wesentlich und für seinVerständnis essenziell sind. Im Einzelnen handelt es sich um: 1 18 www.WALHALLA.de

Prinzipien des SGB VIII Beteiligung der Betroffenen Ein erster Grundsatz, der das SGB VIII kennzeichnet, besteht in der weit gefassten Beteiligung betroffener Eltern, Jugendlicher, Kinder und junger Volljähriger. Denn die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe (s. S. 13) können durch eine möglichst weitgehende Partizipation grundsätzlich wirksamer erfüllt werden – was gemeinsam erläutert und einvernehmlich vereinbart worden ist, verspricht längeren Bestand und größere Wirksamkeit als einseitig verbindliche hoheitliche Anordnungen; sind Erziehungsberechtigte und junge Menschen in die jeweilige Entscheidung eingebunden, so ist es auch ihre Entscheidung. Daher finden sich verschiedene Beteiligungsmöglichkeiten und Partizipationsformen, z. B. in § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Leitvorstellungen und Grunds-tze 1 www.WALHALLA.de 19

Die Norm trägt die Überschrift „Beteiligung von Kindern und Jugendlichen“ und lautet: „Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen.“ In diesem Zusammenhang stellt § 8 Abs. 4 SGB VIII klar: „Beteiligung und Beratung von Kindern und Jugendlichen nach diesem Buch erfolgen in einer für sieverständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form.“ Zudem wird die Beteiligungskultur der Kinder- und Jugendhilfeleistungen bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllungder Aufgaben etwa durch § 9 Nr. 2, 1. Hs. SGB VIII verstärkt. Danach gilt: „Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind […] 2. die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes oder des Jugendlichen zu selbständigem, verantwortungsbewusstem Handeln […] zu berücksichtigen […].“ Auch für die allgemeine Förderung der Erziehung ist in § 16 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII bestimmt: „(1) […] Diese Leistungen sollen Erziehungsberechtigte bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung unterstützen und dazu beitragen, dass Familien sich die für ihre jeweilige Erziehungsund Familiensituation erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten insbesondere in Fragen von Erziehung, Beziehung und Konfliktbewältigung, von Gesundheit, Bildung, Medienkompetenz, Hauswirtschaft sowie der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit aneignen können und in ihren Fähigkeiten zur aktiven Teilhabe und Partizipation gestärkt werden. […] (2) Leistungen zur Förderung der Erziehung in der Familie sind insbesondere 1. Angebote der Familienbildung, die auf Bedürfnisse und Interessen sowie auf Erfahrungen von Familien in unterschiedlichen Lebenslagen und Erziehungssituationen eingehen, die Familien in ihrer Gesundheitskompetenz stärken, die Familie zur Mitarbeit in Erziehungseinrichtungen und in Formen der Selbst- und Nachbarschaftshilfe besser befähigen, zu ihrer Teilhabe beitragen Aufgaben, Grundbegriffe und Grundsätze 1 20 www.WALHALLA.de

Trägerder öffentlichen Jugendhilfe Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe werden gemäß § 69 Abs. 1 SGB VIII durch Landesrecht bestimmt. So bestimmt z. B. das Bayerische Landesrecht in Art. 15 Satz 1 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG) als sog. örtlicheTrägerderöffentlichen Jugendhilfe die Landkreise und kreisfreien Gemeinden, als sog. überörtlicher Träger der Jugendhilfe ist in Art. 24 Abs. 1 Satz 1 AGSG der Freistaat Bayern bestimmt. Gemäß § 69 Abs. 3 SGB VIII muss zudem jeder örtliche Träger, z. B. jeder Landkreis und jede kreisfreie Gemeinde, ein Jugendamt einrichten, jeder überörtlicheTräger ein Landesjugendamt. So sieht z. B. auch Art. 16 Abs. 1 AGSG auf der Ebene des bayerischen Landesrechts vor, dass jeder örtlicheTräger ein Jugendamt errichten muss und dass die Aufgaben des örtlichen Trägers durch das Jugendamt wahrgenommen werden. Fürdenüberörtlichen Träger der Jugendhilfe, z. B. den Freistaat Bayern, ist weiter geregelt, dass seine Aufgaben in der Regel durch das Bayerische Landesjugendamt (BLJA) wahrgenommen werden (vgl. Art. 24 Abs. 1 Satz 2 AGSG; zu Ausnahmen s. Art. 24 Abs. 1 Satz 3 AGSG). Die Aufgaben des Jugendamtes werden durch den sog. Jugendhilfeausschuss und die Verwaltung des Jugendamtes wahrgenommen (vgl. § 70 Abs. 1 SGB VIII, sog. Zweigliedrigkeit des Jugendamtes). Ziel dieser Organisationsstruktur ist es, eine möglichst breite Fachlichkeit undeinemöglichst weite Bürgerbeteiligung sicherzustellen, um die Belange junger Menschen und ihrer Erziehungsberechtigten berücksichtigen und eine direkte Einbindung in die kommunalen Entscheidungsfindungsprozesse gewährleisten zu können. Der Jugendhilfeausschuss befasst sich gemäߧ 71 Abs. 3 SGB VIII mit allen Angelegenheiten der Jugendhilfe, d. h. mit grundlegenden Fragen der Kinder- und Jugendhilfepolitik vor Ort, insbesondere mit & derErörterung aktueller Problemlagen junger Menschen und ihrer Familien sowie mit Anregungen und Vorschlägen für die Weiterentwicklung der Jugendhilfe, z. B. zur lokalen Wohnungs- oder Arbeitsmarktpolitik, & der Jugendhilfeplanung (vgl. § 80 SGB VIII), z. B. grundsätzliche Bestimmungen der Hilfeplanungsprozesse, und & der Förderung der freien Jugendhilfe, z. B. auch der Förderung einzelner Maßnahmen und Dienste. 4 102 www.WALHALLA.de

Als in der Regel sog. beschließender Ausschuss (vgl. § 71 Abs. 4 SGB VIII), z. B. des Gemeinderats oder des Kreistags (vgl. Art. 17 Abs. 1 AGSG), hat der Jugendhilfeausschuss stimmberechtigte und beratende Mitglieder (s. S. 29). Die stimmberechtigten Mitglieder setzen sich wie folgt zusammen: & zu 3/ 5 aus Mitgliedern der sog. Vertretungskörperschaft des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe – dem Repräsentativorgan der kommunalen Gebietskörperschaft, z. B. des Gemeinde- bzw. Kreistags, – bzw. aus von ihr gewählten erfahrenen Personen und & zu 2/ 5 aus Personen, die von den freien Trägern (s. S. 16) vorgeschlagen und von der Vertretungskörperschaft gewählt werden. Für beide Gruppen sind ausdrücklich „Männer und Frauen“ als Mitglieder benannt (vgl. § 71 Abs. 1 SGB VIII), sodass beide Geschlechter im Jugendhilfeausschuss vertreten sein müssen. Darüber hinaus gehören dem Jugendhilfeausschuss als beratende Mitglieder & die selbstorganisierten Zusammenschlüsse nach § 4a SGB VIII (s. S. 28) an (vgl. § 71 Abs. 2 SGB VIII) sowie & weitere beratende Mitglieder nach Maßgabe des Landesrechts (vgl. § 71 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII), z. B. nach Art. 19 Abs. 1 AGSG eine Polizeibeamtin oder ein Polizeibeamter, eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter der zuständigen Agentur für Arbeit oder eine Jugend-, Familien- oder Vormundschaftsrichterin bzw. ein solcher Richter. Die Verwaltung des Jugendamtes (vgl. § 72 SGB VIII) soll & hauptberuflich nur Fachkräftebeschäftigen, die sich für die jeweilige Aufgabe nach ihrer Persönlichkeit eignen und eine dieser Aufgabe entsprechende Ausbildung erhalten haben oder aufgrund besonderer Erfahrungen in der Sozialen Arbeit in der Lage sind, die Aufgabe zu erfüllen, z. B. eine Sozialpädagogin bzw. ein Sozialpädagoge, sowie & je nach Landesrecht mindestens eine hauptberufliche Jugendpflegerin bzw. einen hauptberuflichen Jugendpfleger, z. B. eine Fachkraft der kommunalen Jugendarbeit, etwa im Freistaat Bayern gemäßArt. 23 Abs. 2 AGSG. Im Zusammenhang mit der Bestellung von Fachkräften sind zudem § 72a SGB VIII, der den Tätigkeitsausschluss einschlägig vorbestrafter Tr-ger der çffentlichen Jugendhilfe 4 www.WALHALLA.de 103

Personen regelt, sowie § 79 Abs. 3 Satz 1, 2. Hs., Satz 2 SGB VIII, der die Anzahl der Fachkräfte, die Planung und die Bereitstellung der Personalausstattung normiert, zu berücksichtigen. Grafisch veranschaulicht stellt sich die Organisation der öffentlichen Jugendhilfe damit wie folgt dar: Organisation der öffentlichen Jugendhilfe Öffentliche Jugendhilfe örtliche Träger überörtliche Träger Jugendamt Landesjugendamt Verwaltung Jugendhilfeausschuss Sachliche Zuständigkeit Die sachliche Zuständigkeit ist in § 85 SGB VIII geregelt. Danach ist der örtliche Träger der Jugendhilfe für alle Aufgaben – d. h. für dieGewährung von Leistungen und die Erfüllung der anderen Aufgaben (s. S. 16) – zuständig, soweit nicht der überörtliche Träger sachlich zuständig ist. Obwohl also von einem (über)örtlichen Träger die Rede ist, ist doch seine sachliche Zuständigkeit gemeint. Örtlicher Träger ist in der Regel das Jugendamt. Der Katalog der Aufgaben, für dieder überörtlicheTräger – und damit nicht der örtlicheTräger – sachlich zuständig ist, umfasst gemäß § 85 Abs. 2 SGB VIII z. B. die Beratung der örtlichen Träger, dieFörderung der Zusammenarbeit zwischen örtlichen Trägern und anerkanntenTrägern der freien Jugendhilfe, den Schutz von Kindern und Träger, Zuständigkeiten, Kostenbeteiligung 4 104 www.WALHALLA.de

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