Urlaubsrecht

Mit Sonderregeln des öffentlichen Dienstes Urlaubsrecht Ostermaier · Vogt Handbuch zum BUrlG und weiteren Freistellungsmöglichkeiten mit den Besonderheiten des TVöD und TV-L DNWXDOLVLHUWH $XʴDJH

WISSEN FÜR DIE PRAXIS • AKTUELL • PRAXISGERECHT • VERSTÄNDLICH Die Urlaubsbestimmungen des Arbeitsrechts Das Handbuch richtet sich an alle Beteiligten der Arbeitswelt und bietet einen fundierten Überblick über die wesentlichen Aspekte des Urlaubsanspruchs. Neben dem Erholungsurlaub hat der Arbeitnehmer weitere Möglichkeiten, eine Auszeit vom Arbeitsverhältnis zu nehmen. Diese Voraussetzungen und Rechtsfolgen werden erörtert. Auf Fallstricke und Probleme bei den aktuellen Fragen wie den Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers bei der Urlaubsgewährung, der Berechnung des Urlaubs bei unterjährigem Wechsel von Voll- in Teilzeit und der Urlaubsabgeltung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird hingewiesen und Taktiken zu deren Vermeidung werden aufgezeigt. Dargestellt werden: • Erholungsurlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) mit zahlreichen Beispielen und Praxis-Hinweisen • Sonderregeln nach den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes (TVöD, TV-L, TV-H) • Urlaubsregeln für besondere Personengruppen (Jugendliche, Auszubildende, schwerbehinderte Menschen, Seeleute und Beschäftigte im Baugewerbe) • )UHLVWHOOXQJHQ DX¡HUKDOE GHV 8UODXEVUHFKWV (OWHUQ]HLW 3ʴHJH]HLW )DPLOLHQSʴHJHzeit, Sabbatical, Mutterschutz u. a.) • Aspekte der Mitbestimmung (Beteiligung des Betriebs- oder Personalrats) und des Rechtsschutzes Dr. Christian Ostermaier, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Solicitor (England und Wales) Sylvia Vogt, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht Bei SNP Schlawien Partnerschaft mbB betreuen die Autoren kleine und mittelständische Unternehmen, familiengeführte Gesellschaften sowie Einzelpersonen unter anderem in allen Fragen des Arbeitsrechts. ISBN 978-3-8029-1614-4 € 49,95 [D] www.WALHALLA.de

Schnellübersicht IX VIII VII VI V IV III II I Einleitung 17 Grundlagen des Urlaubsrechts 25 Erholungsurlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz, arbeits- und tarifvertraglichen Regeln, insbesondere dem TVöD/TV-L 31 Mitbestimmung des Betriebs- bzw. Personalrats 197 Urlaubsregelungen für besondere Personengruppen 205 Durchsetzung des Urlaubsanspruchs 261 Reduzierung von Urlaubsansprüchen 267 Freistellung außerhalb des Urlaubsrechts 277 Feiertage 385 Stichwortverzeichnis 391

I. Grundlagen des Urlaubsrechts 26 www.WALHALLA.de I I. Grundlagen des Urlaubsrechts 1. Nationale Regelungen Urlaub ist die Freistellung von der Arbeitspflicht. Jeder Arbeitnehmer hat Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Eine Freistellung kann jedoch auch aus anderen Gründen erfolgen. Je nachdem, welchem Zweck die Freistellung dient, gelten unterschiedliche gesetzliche Vorgaben. Diese sind nicht in einem umfassenden „Urlaubsgesetzbuch“ zusammengefasst, sondern auf eine Vielzahl von Gesetzen verteilt. Das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) regelt nur den Erholungsurlaub. Der Arbeitgeber hat bei der Urlaubsgewährung nicht nur die einschlägigen gesetzlichen Regelungen zu beachten, sondern auch die arbeitsvertraglichen und kollektivrechtlichen Vereinbarungen. Letztere sind die Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen. Durch Vereinbarung darf oft nur unter ganz engen Voraussetzungen von den gesetzlichen Vorgaben abgewichen werden, da diese im Urlaubsrecht oft zwingend gelten oder nur eingeschränkt dispositiv, d. h. verhandelbar, sind. Dabei haben die Arbeitsvertragsparteien oftmals einen noch geringeren Spielraum als die Tarifparteien. Letzteren traut der Gesetzgeber bisweilen eher zu, eine ausgewogene Regelung zu finden, als ersteren: Im Arbeitsverhältnis wird meist ein Gefälle in der Verhandlungsmacht zugunsten des Arbeitgebers vorliegen, sodass der Arbeitnehmer besonders schutzwürdig erscheint. Im Arbeitsvertrag darf deshalb z. B. von den Vorgaben des BUrlG im Wesentlichen nur zugunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden. Hingegen können Gewerkschaften gegenüber der Arbeitgeberseite durchaus gleichberechtigt auftreten. Der Gesetzgeber hat deshalb auf tarifvertraglicher Ebene mehr Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt. Widersprechen sich die Regelungen von Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag, muss man also wissen, welche davon Vorrang hat. Es ist deshalb wichtig, nicht nur die einschlägigen arbeits- und kollektivvertraglichen Regelungen zu kennen, sondern auch die gesetzlichen Vorschriften und wie sich diese zueinander verhalten.

2. Europarechtliche Regelungen 27 www.WALHALLA.de I Das Urlaubsrecht ist neben den gesetzlichen Vorgaben deutlich von der Rechtsprechung geprägt. Häufig kann die Frage, ob eine konkrete Regelung zulässig ist, nur anhand von Urteilen beantwortet werden, die für vergleichbare Sachverhalte bereits ergangen sind. An verschiedenen Stellen im Fachratgeber wird deshalb in Fußnoten auf die konkreten Urteile hingewiesen. 2. Europarechtliche Regelungen Das Urlaubsrecht ist nicht nur von der nationalen Rechtsprechung, sondern auch sehr stark von europarechtlichen Einflüssen und Urteilen des EuGH geprägt: Das Europarecht stellt Mindestbedingungen für den Urlaub von Arbeitnehmern auf. Art. 31 Abs. 2 GRCh bestimmt, dass jeder Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub hat. Art. 7 AZRL verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten erhält. Außerdem darf der bezahlte Mindestjahresurlaub – außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden. Denn der Urlaub dient in erster Linie der Erholung – er ist keine rein monetäre Angelegenheit. Der Arbeitnehmer kann im Normalfall jedoch weder aus der Grundrechte-Charta noch aus der Richtlinie unmittelbar Ansprüche gegenüber seinem Arbeitgeber herleiten. Die Bürger und sonstige Rechtssubjekte (insbesondere juristische Personen, Tarifvertragsparteien) der Mitgliedstaaten sind nicht unmittelbar an die Vorgaben der Richtlinien gebunden. Die Grundrechte der Charta und Richtlinien müssen erst durch ein nationales Gesetz umgesetzt werden (Art. 288 Satz 2 AEUV). Nur dann, wenn der nationale Gesetzgeber seiner Umsetzungspflicht nicht ordnungsgemäß nachkommt, kann eine Richtlinie ausnahmsweise unmittelbare Geltung im Verhältnis zwischen Bürger und Staat bzw. seinen von ihm im öffentlichen Interesse gegründeten und beaufsichtigen Einrichtungen – unabhängig von der Rechtsform – beanspruchen,1 vorausgesetzt die Richtlinie ist bereits hinreichend konkret formuliert, sodass sich ein bestimmter 1 EuGH, Urteil vom 14. Juli 1994, Az.: C-91/92, NJW 1994, 2473; BAG, Beschluss vom 2. April 1996, Az.: 1 ABR 47/95, NZA 1996, 998

I. Grundlagen des Urlaubsrechts 28 www.WALHALLA.de I Anspruch daraus ableiten lässt. Dies betrifft somit den gesamten Bereich des öffentlichen Dienstes. Gegenüber privaten Arbeitgebern können Richtlinien und die Grundrechte-Charta jedoch im Rahmen der Auslegung bestehenden nationalen Rechts Bedeutung erlangen, auch wenn sie noch nicht in spezielles nationales Recht umgesetzt sind. Wenn es um den Mindesturlaub geht, ist Rechtsgrundlage für den Arbeitnehmer deshalb stets das BurlG. Dieses setzt die Vorgaben der Richtlinie und der Grundrechte-Charta um. Bei der Auslegung des BUrlG berücksichtigen die deutschen Gerichte die europarechtlichen Vorgaben. Kommt es in einem nationalen Gerichtsverfahren auf die Auslegung von EU-Recht an, so kann das nationale Gericht eine entsprechende Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegen (Art. 267 AEUV: sog. Vorabentscheidungsverfahren). Die Entscheidung des EuGH wird sodann vom nationalen Gericht in seiner Entscheidung des konkreten Falles berücksichtigt. Die Rechtsprechung des BAG hat sich unter der Geltung der europarechtlichen Vorschriften und der Entscheidungen des EuGH zum Urlaubsrecht deshalb in den letzten Jahren massiv gewandelt. 3. Internationale Regelungen Neben den europarechtlichen Vorschriften existieren weitere internationale Regelungen in verschiedenen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO). Zu nennen wären das internationale Übereinkommen Nummer 132 über den bezahlten Jahresurlaub vom 24. Juni 1970 (umgesetzt am 30. April 1975, BGBl. II 1975 S. 745), das Übereinkommen über die Arbeitsbedingungen in Hotels, Gaststätten und ähnlichen Betrieben (BGBl. II 2006 S. 490, in Kraft gesetzt am 14. November 2007) und das Seearbeitsübereinkommen. Rechtswirkung zugunsten des Einzelnen können internationale Abkommen erst mit Umsetzung durch ein nationales Gesetz entfalten. In Deutschland sind die Übereinkommen entsprechend umgesetzt worden mit dem BUrlG und dem SeeArbG. Bei der Auslegung der nationalen Gesetze können wiederum die zugrunde liegenden Übereinkommen herangezogen werden. Im Folgenden soll ein umfassender Überblick über die verschiedenen Varianten von Freistellungen im Arbeitsverhältnis gegeben werden. Dargestellt werden die Voraussetzungen der verschiedenen Freistellungsarten sowie die Rechtsfolgen, insbesondere auch, wie

1. Geltungsbereich des BUrlG 35 www.WALHALLA.de II II. Erholungsurlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz, arbeits- und tarifvertraglichen Regeln, insbesondere dem TVöD/TV-L 1. Geltungsbereich des BUrlG 1.1 U m welchen Urlaub geht es? Für die meisten Arbeitnehmer dürfte der Erholungsurlaub von allen Arten der Freistellung die größte praktische Bedeutung haben. Erholungsurlaub bedeutet die vorübergehende Freistellung des Arbeitnehmers von der Arbeitspflicht unter Entgeltfortzahlung zum Zweck der Erholung.1 Dem Arbeitnehmer soll ein bestimmter Zeitraum zur Erholung, Entspannung und für Freizeit zur Verfügung stehen.2 Da dieser Zweck nur erreicht werden kann, wenn der Urlaub auch tatsächlich im laufenden Urlaubsjahr genommen wird, soll eine Übertragung ins nächste Urlaubsjahr oder eine Abgeltung nur in Ausnahmefällen erfolgen. Dennoch ist es rechtlich irrelevant, ob der Arbeitnehmer tatsächlich erholungsbedürftig ist. Die gesetzlichen Regelungen zum Erholungsurlaub finden sich im BUrlG, das bereits am 8. Januar 1963 erlassen und zuletzt am 20. April 2013 (BGBl. I 2013 S. 869) geändert wurde. Es stellt die Mindestbedingungen auf, die für den Erholungsurlaub im Arbeitsverhältnis gelten. Die ergänzenden Regelungen in Tarif- und Arbeitsverträgen sind vielgestaltig und können an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden. Die Darstellung beschränkt sich auf die in der Praxis wichtigsten Klauseln und die im öffentlichen Dienst geltenden Vorgaben. 1 BAG, Urteile vom 28. März 2023, Az.: 9 AZR 488/21, NZA 2023, 826; vom 20. Juni 2000, Az.: 9 AZR 405/999, DB 2000, 2327 2 EuGH, Urteil vom 22. April 2000, Az.: C-486/08, NZA 2010, 557

II. Erholungsurlaub 36 www.WALHALLA.de II 1.1.1 Gesetzlicher Mindesturlaub Das BUrlG gilt prinzipiell nur für den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch. Es legt fest, wie viele Urlaubstage mindestens zu gewähren sind, in welchem Zeitraum dies zu geschehen hat, wann Urlaubsansprüche verfallen oder abzugelten sind, ob der Arbeitnehmer während des Urlaubs erwerbstätig sein darf, was geschieht, wenn der Arbeitnehmer während des Urlaubs erkrankt, und welches Entgelt er während seines Urlaubs erhält. 1.1.2 Arbeits- und tarifvertraglicher Mehrurlaub Für kollektiv- oder arbeitsvertraglich vereinbarten Mehrurlaub gelten die Vorgaben des BurlG an sich nicht. Für diesen Mehrurlaub, der also den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigt, können die Vertragsparteien eigenständige Regelungen treffen, die von denjenigen des BUrlG abweichen. Sie müssen dies aber nicht. Der Mehrurlaub kann auch den Regeln des BUrlG unterworfen werden. Man spricht dann von einem sog. „Gleichlauf der Ansprüche“. Bei Urlaubsansprüchen ist deshalb zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und dem einzel- oder tarifvertraglich vereinbarten Mehrurlaub zu unterscheiden. Ob die Tarif- oder Arbeitsvertragsparteien eine eigenständige Regelung getroffen, also einen Gleichlauf ausgeschlossen haben, ist durch Auslegung des Vertrages zu ermitteln. Wollen die Parteien ein vom BUrlG abweichendes Regime aufstellen, müssen aus dem (Tarif-)Vertrag hinreichend deutliche Anhaltspunkte dafür hervorgehen. Zum Beispiel kann bestimmt werden, dass der vertragliche Urlaub im laufenden Urlaubsjahr gewährt und genommen werden muss und eine Übertragung nur in besonders genannten Ausnahmefällen, die strenger sind als die im BUrlG, möglich ist.3 Ergeben sich aus dem Vertrag keine Anhaltspunkte, dass die Parteien den Mehrurlaub auf besondere Art und Weise regeln wollten, gelten auch für den Mehrurlaub die Bestimmungen des BUrlG. Die Geltung der Vorgaben des BUrlG auch für einen tarif- oder arbeitsvertraglichen Mehrurlaub dürfte deshalb die Regel sein. Für den öffentlichen Dienst hat das BAG festgestellt, dass die Regelung des § 26 TVöD zum Erholungsurlaub einen abweichenden Regelungswillen für den tariflichen Mehrurlaub enthält, was das 3 BAG, Urteil vom 14. Februar 2017, Az.: 9 AZR 207/16, BeckRS 2017, 106695

1. Geltungsbereich des BUrlG 37 www.WALHALLA.de II Fristenregime und den Verfall angeht,4 nicht jedoch, was die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers betrifft. Insoweit „teilt der tarifliche Mehrurlaub das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs“.5 Es ist somit bei jeder einzel- oder tarifvertraglichen Regelung zum Urlaubsanspruch genau zu prüfen, ob und inwieweit sie hinsichtlich des Mehrurlaubs zulässigerweise von den Vorgaben des BUrlG abweicht. Zur Frage, inwieweit in Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen im Übrigen von den Vorgaben des BUrlG und des EU-Rechts abgewichen werden darf, sowie zur Frage, in welchem Verhältnis diese Regelungen zueinander stehen, vgl. Abschnitt 2. Im Folgenden wird bei den Erläuterungen zum BUrlG auch jeweils auf hiervon abweichende Bestimmungen in TVöD/TV-L/TV-H eingegangen. 1.2 F ür wen gilt das Gesetz? Das BUrlG gilt für Arbeitnehmer (§ 1 BUrlG). Arbeitnehmer sind Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten (§ 2 BUrlG). Das BUrlG gilt also nicht für selbstständige Dienstleister, Mitunternehmer oder Werkvertragspartner. 1.2.1 Begriff des „Arbeitnehmers“ Doch wer ist „Arbeitnehmer“? § 611a BGB definiert, was einen „Arbeitnehmer“ – im Unterschied zum Selbstständigen – ausmacht: Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Für die Feststellung, ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen. Zeigt die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses, dass es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an. 4 BAG, Urteil vom 22. Mai 2012, Az.: 9 AZR 575/10, NZA-RR 2013, 48 5 BAG, Urteile vom 19. Februar 2019, Az.: 9 AZR 541/15, NZA 2019, 982; vom 20. Dezember 2022, Az.: 9 AZR 245/19

II. Erholungsurlaub 38 www.WALHALLA.de II Entscheidend ist also die sog. Weisungsgebundenheit. Ob diese gegeben ist, kann an folgenden Kriterien festgemacht werden: ▪▪ keine freie Bestimmung von Zeit, Ort sowie Art und Weise der Tätigkeit ▪▪ keine Möglichkeit, einen Auftrag abzulehnen ▪▪ Eingliederung in die betrieblichen Arbeitsabläufe ▪▪ Aufnahme in Organisations-, Raumbelegungspläne, Telefonlisten, E-Mail-Verteiler ▪▪ Pflicht zur Vertretung von Kollegen ▪▪ Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung ▪▪ keine Beschäftigung von eigenen Mitarbeitern ▪▪ keine Tätigkeit für mehrere Auftraggeber ▪▪ keine Anmeldung eines Gewerbes ▪▪ keine eigene Werbung ▪▪ keine eigene unternehmerische Verantwortlichkeit, kein eigenes Qualitätsmanagement ▪▪ Wettbewerbsverbot ▪▪ keine eigenen Betriebsmittel ▪▪ keine eigene Betriebsstätte Dieser Katalog ist nicht abschließend. Die Punkte können je nach Einzelfall unterschiedlich zu gewichten sein. Es müssen jeweils alle Umstände und Besonderheiten des konkreten Falles gewürdigt werden. Erst durch eine Zusammenschau aller Umstände kann in Zweifelsfällen die Frage, ob ein Arbeitsverhältnis vorliegt, beantwortet werden. Problematisch kann die Abgrenzung nicht nur beim freien Mitarbeiter, sondern auch bei Franchisenehmern sein. Zwar sind diese in der Regel selbstständig. Lässt ihnen der Franchisevertrag jedoch kaum mehr unternehmerischen Gestaltungsspielraum, können sie als Arbeitnehmer anzusehen sein. Es kommt darauf an, inwieweit sie in die Organisation des Franchisegebers einbezogen und dessen Weisungen unterworfen sind.6 6 BAG, Urteil vom 25. Juli 2023, Az.: 9 AZR 43/22, NZA 2023, 1531; Beschluss vom 16. Juli 1997, Az.: 9 AZR 29/96, BB 1997, 1591

1. Geltungsbereich des BUrlG 39 www.WALHALLA.de II Die Mitarbeit in einem Familienbetrieb kann ebenfalls auf Basis eines Arbeitsvertrages erfolgen. Allerdings ist dies nicht zwingend der Fall. Es kommt auf die tatsächliche Ausgestaltung an, insbesondere inwieweit das Familienmitglied an die Weisungen eines Vorgesetzten gebunden und in den Betrieb eingegliedert ist. Bei der Frage, ob jemand als „Arbeitnehmer“ im Sinne des BUrlG anzusehen ist, spielt das Europarecht eine wichtige Rolle. Denn bei der Auslegung des BUrlG haben die deutschen Gerichte auch die Vorgaben der AZRL zum Jahresurlaub zu beachten. Und der europarechtliche Arbeitnehmerbegriff ist weiter als der deutsche: Der Geschäftsführer einer GmbH erbringt seine Dienste an sich nicht im Rahmen eines Arbeits-, sondern (freien) Dienstvertrages. Dennoch steht ihm nach der Rechtsprechung des EuGH der Mindesturlaub nach Art. 7 AZRL zu, wenn er über keine oder nur eine Minderheitsbeteiligung ohne Sperrminorität an der Gesellschaft verfügt.7 Denn auch dann ist er den Weisungen der Gesellschafterversammlung faktisch unterworfen. Dasselbe gilt für Beamte. Diese sind ebenfalls keine Arbeitnehmer, dennoch ist auch ihnen mindestens der Urlaub nach Art. 7 AZRL zu gewähren.8 Wichtig: Liegt ein Arbeitsverhältnis im genannten Sinne vor, so ist es unerheblich, ob der Arbeitnehmer in Teilzeit oder sogar nur als Aushilfe arbeitet. Auch dann hat er Urlaubsansprüche nach dem BUrlG. Geht der Arbeitnehmer einer Nebentätigkeit nach, besteht eine „Doppelbeschäftigung“. Urlaubsansprüche ergeben sich dann sowohl aus der Haupt- als auch der Nebenbeschäftigung. Die Urlaubsansprüche bestehen nebeneinander. Auch sog. „Ein-Euro-Jobber“ haben Anspruch auf bezahlten Urlaub (§ 16d Abs. 7 Satz 2 SGB II). In einem Wiedereingliederungsverhältnis nach § 74 SGB V kann kein Urlaub genommen werden. Denn der Arbeitnehmer ist wegen seiner Erkrankung ohnehin nicht in der Lage, die Arbeitsleistung zu erbringen. Es besteht keine Arbeitsverpflichtung, von der er durch Urlaubsgewährung befreit werden könnte. 7 EuGH, Urteil vom 11. November 2010, Az.: C-232/09, NZA 2011, 143 8 EuGH, Urteil vom 3. Mai 2012, Az.: C-337/10, AP RL 2003/88/EG Nr. 8 für beamtete Feuerwehrleute

II. Erholungsurlaub 40 www.WALHALLA.de II Allerdings gilt: Da das Arbeitsverhältnis rechtlich trotzdem fortbesteht und die tatsächliche Leistung von Arbeit nicht Voraussetzung für das Entstehen von Urlaubsansprüchen ist, können auch während des Wiedereingliederungsverhältnisses Urlaubsansprüche dem Grunde nach entstehen (vgl. hierzu Abschnitt 9.3). Diese können jedoch wegen Zeitablaufs wieder verfallen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit über den Übertragungszeitraum bis zum 31. März des übernächsten Jahres (15-Monatsfrist) hinaus andauert oder der Arbeitnehmer ihn aus sonstigen Gründen nicht rechtzeitig antritt (zur längerfristigen krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit siehe Abschnitt 5.6.3). Auszubildenden, Umschülern (§ 1 Abs. 3 BBiG), Volontären (§ 26 BBiG) und Praktikanten, soweit sie nicht nur ein von der Studienordnung vorgeschriebenes (Fach-)Hochschul- oder Schülerpraktikum ableisten (§ 26 BBiG), stehen gleichfalls Urlaubsansprüche nach dem BUrlG zu. 1.2.2 Arbeitnehmerähnliche Personen Dasselbe gilt für arbeitnehmerähnliche Personen. Diese sind an sich nicht weisungsgebunden und deshalb keine Arbeitnehmer. Sie erbringen jedoch ihre Dienste persönlich und in der Regel ohne eigene Mitarbeiter. Dabei sind sie wirtschaftlich von einem bestimmten Auftraggeber abhängig und einem Arbeitnehmer vergleichbar sozial schutzbedürftig (vgl. § 12a TVG). Sie werden deshalb in den Geltungsbereich des BUrlG mit einbezogen. Beispiele für arbeitnehmerähnliche Personen sind freie Handelsvertreter, Heimarbeiter und Rundfunkmitarbeiter, die programmgestaltend mitarbeiten. Dies ist typischerweise dann der Fall, wenn die Mitarbeiter ihre eigene Auffassung zu politischen, herrschaftlichen, künstlerischen oder anderen Sachfragen, ihre Fachkenntnisse und Informationen, ihre individuelle künstlerische Befähigung und Aussagekraft in die Sendung mit einbringen können. In Betracht kommen hier regelmäßig Regisseure, Moderatoren, Kommentatoren, Wissenschaftler und Künstler. Nicht zu den programmgestaltenden Mitarbeitern gehören indes das betriebstechnische und das Verwaltungspersonal sowie diejenigen, die zwar bei der Verwirklichung des Programms mitwirken, aber keinen inhaltlichen Einfluss darauf haben.9 Die letztgenannten Mitarbeiter werden in der Regel 9 BAG, Urteil vom 17. April 2013, Az.: 10 AZR 272/12, NZA 2013, 903

1. Geltungsbereich des BUrlG 41 www.WALHALLA.de II im Rahmen eines „normalen“ Arbeitsverhältnisses tätig. Auch ITProgrammierer oder Übersetzer können als arbeitnehmerähnliche Personen tätig sein. Entscheidend ist, dass sie sowohl wirtschaftlich von einem Auftraggeber abhängig als auch einem Arbeitnehmer vergleichbar sozial schutzbedürftig sind. Ob dies der Fall ist, prüfen die Arbeitsgerichte anhand einer konkreten Einzelfallbetrachtung. Man kann also nicht davon ausgehen, dass eine bestimmte Berufsgruppe generell als arbeitnehmerähnlich anzusehen ist. § 12a TVG nennt einige Kriterien für die Bestimmung der wirtschaftlichen Abhängigkeit und sozialen Schutzbedürftigkeit. Zwar ist diese Bestimmung für den Urlaubsanspruch nicht direkt anwendbar, da es dort ausschließlich um den Abschluss von Tarifverträgen geht. Dennoch ziehen die Arbeitsgerichte auch die in § 12a TVG aufgeführten Kriterien bei der Frage, ob einem Anspruchsteller Urlaub zusteht, heran. Allerdings wird § 12a TVG nicht schematisch angewandt, sondern im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Mindesturlaubs: Beispiel: Herr T ist als Übersetzer für einen Übersetzerservice als freier Mitarbeiter tätig und erzielt dort ein durchschnittliches monatliches Einkommen in Höhe von 9.000 Euro. Er bestimmt seine Arbeitszeit selbst und ist frei, einen Auftrag abzulehnen. Außerdem erhält er immer wieder Aufträge einer Großkanzlei und erzielt dort im Durchschnitt ca. 900 Euro monatlich Honorar. Daneben besitzt er ein Mietshaus. Er erzielt Mieteinnahmen in Höhe von ca. 2.800 Euro monatlich. T möchte vom Übersetzerservice bezahlten Urlaub. Zu Recht? T ist für den Übersetzerservice als freier Mitarbeiter tätig und auch nicht als arbeitnehmerähnliche Person anzusehen, da er nicht mit einem Arbeitnehmer vergleichbar sozial schutzbedürftig ist. Denn er kann seine freie Zeit und seinen Urlaub selbst bestimmen. Seine Einkünfte sind dabei so hoch, dass er nicht auf ein Urlaubsentgelt angewiesen ist. T kann deshalb gegenüber dem Übersetzerservice keine Urlaubsansprüche geltend machen.10 10 vgl. hierzu den ähnlichen Fall einer Moderatorin: LAG Köln, Urteil vom 22. April 1999, Az.: 10 Sa 722/97, NZA-RR 1999, 589

II. Erholungsurlaub 42 www.WALHALLA.de II Für den Bereich der Heimarbeit – ebenfalls arbeitnehmerähnliche Personen – gilt die Sondervorschrift des § 12 BUrlG (siehe hierzu Kapitel IV Abschnitt 7). 1.2.3 Wirksames Vertragsverhältnis Die Anwendung des BUrlG setzt außerdem ein wirksames Vertragsverhältnis im oben genannten Sinne voraus. Es kann jedoch vorkommen, dass bereits beim Vertragsabschluss Fehler unterlaufen sind, sodass kein rechtswirksames Vertragsverhältnis zustande gekommen ist. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn sich ein Vertragspartner in einem rechtserheblichen Irrtum befunden hat (§§ 119 f., 123 BGB), der ihn zur Anfechtung seiner Willenserklärung ermächtigt. Ein solcher Irrtum kann darin liegen, dass der Arbeitgeber sich über Eigenschaften des Bewerbers getäuscht hat, die für die zu besetzende Stelle wesentlich sind. Der Arbeitgeber ist dann berechtigt, wegen eines Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft anzufechten, weil er das Vertragsangebot bei Kenntnis der wahren Sachlage und Würdigung der Umstände des Falles nicht oder nicht so abgegeben haben würde. Beispiel: Ein als LKW-Fahrer eingestellter Arbeitnehmer ist für den Arbeitsplatz objektiv ungeeignet, wenn er (z. B. wegen einer Trunkenheitsfahrt) gar nicht im Besitz eines Führerscheins ist. Allgemein können verschwiegene Vorstrafen zur Anfechtung berechtigen, wenn sie für das Arbeitsverhältnis von einschlägiger Bedeutung sind (z. B. Verurteilung wegen Untreue bei einem Kassierer). Allerdings muss in aller Regel das Informationsbedürfnis des Arbeitgebers mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers abgewogen werden. Ist eine Vorstrafe im Bundeszentralregister getilgt, wird sich der Arbeitnehmer zumindest im Regelfall auch gegenüber dem Arbeitgeber als nicht vorbestraft bezeichnen dürfen.11 Im Einzelnen besteht eine umfangreiche Rechtsprechung, welche Fragen der Arbeitgeber bei einem Bewerbungsgespräch stellen darf 11 BAG, Urteil vom 6. September 2012, Az.: 2 AZR 270/11, NJW 2013, 1115

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