Eingrupperung Tarifvertrag Versorgung

Eingruppierung Tarifvertrag Versorgung Annett Gamisch · Thomas Mohr Den TV-V korrekt umsetzen DNWXDOLVLHUWH $XʴDJH

Die Eingruppierungsregeln sicher anwenden Das Praxis-Handbuch widmet sich den Eingruppierungsbestimmungen im Tarifvertrag für Versorgungsbetriebe. Tarifbeschäftigte, Betriebs- und Personalratsmitglieder, Gewerkschaften, Mitarbeiter in Personalabteilungen sowie Unternehmens- und Dienststellenleitungen erhalten einen fundierten Überblick zu den Eingruppierungsgrundlagen, den Tätigkeitsmerkmalen und deren Anforderungen. Mithilfe von zahlreichen Praxis-Tipps und Beispielen aus der Rechtsprechung gelingt eine tarifkonforme Zuordnung zur richtigen Entgeltgruppe. Dargestellt werden: • Grundlagen der Eingruppierung nach dem TV-V • Aufbau der Entgeltordnung • Auslegung der Tätigkeitsmerkmale • Ermitteln der korrekten Eingruppierung • Die Arbeit mit tarifkonformen Stellenbeschreibungen Annett Gamisch, Diplom-Betriebswirtin (BA) für öffentliche Wirtschaft; Trainerausbildung; langjährige Erfahrung in der Eingruppierung und Stellenbeschreibung für den öffentlichen und kirchlichen Dienst; Geschäftsführerin des Instituts für PersonalWirtschaft (IPW) GmbH in Fulda, das den öffentlichen und kirchlichen Dienst schult und personalwirtschaftlich berät. Thomas Mohr, Ass. jur., Studium der Rechtswissenschaft mit Schwerpunkt Öffentliches Recht, Referent für Tarifrecht des Instituts für PersonalWirtschaft (IPW) GmbH in Fulda, langjährige Erfahrung als Berater in Eingruppierungsfragen und in der Erstellung von Stellenbeschreibungen und -bewertungen für den öffentlichen und kirchlichen Dienst. www.WALHALLA.de ISBN 978-3-8029-1522-2 € 32,95 [D] • AKTUELL • PRAXISGERECHT • VERSTÄNDLICH WISSEN FÜR DIE PRAXIS

www.WALHALLA.de 7 Korrekt eingruppieren Das Tarifrecht der Versorgungswirtschaft ist in Bewegung; Fragen nach der tarifkonformen Eingruppierung werden immer wichtiger, denn neue Mitarbeiter müssen gewonnen und gehalten werden, zugleich steigt der Kostendruck. Auch Versorgungsunternehmen müssen sich zunehmend für Personalkosten rechtfertigen. Auf der anderen Seite wird es immer schwieriger, fachlich gut qualifiziertes Personal zu finden. Vor diesem Hintergrund war der TV-V das erste „moderne“ Tarifwerk des öffentlichen Dienstes. Die Regelung der Arbeitsverhältnisse sollte gestrafft und vereinfacht werden. Ein wesentlicher Bestandteil sind die Regelungen zur Eingruppierung der Arbeitnehmer (§ 5 Abs. 1 und Anlage 1 zum TV-V). Trotz vieler praktischer Anwendungsprobleme existiert weiterhin wenig Rechtsprechung. Auch die Literatur hat die Eingruppierungsregelungen des TV-V kaum thematisiert. Auf den ersten Blick spricht dies wohl dafür, dass nicht nur die gewünschte Straffung, sondern auch die Vereinfachung erfolgreich war. Doch unsere Beratungspraxis sieht anders aus. Die Anfragen zur tarifrechtlich abgesicherten Eingruppierung nehmen stetig zu. Die geschlossenen Regelungen sind zwar knapp gehalten, werfen aber viele Auslegungsfragen auf. Zudem wird die mit der Umsetzung des Energiewirtschaftsgeset- zes 2005 und dessen Novellierungen verbundene Offenlegung und staatliche Kontrolle der Netznutzungsentgelte weiterhin zu erhöhtem Kostendruck führen. Die Versorgungsbranche ist damit in Zukunft stärker als bisher auch zur tarifgerechten Anwendung der Eingruppierungsbestimmungen des TV-V gezwungen. Wir freuen uns über die vielen Rückmeldungen der Praktiker, die wir erhalten haben. Mit unserer fünften Auflage möchten wir Arbeitgebern, Betriebs- und Personalräten sowie Arbeitnehmern eine aktualisierte, praktische und juristisch fundierte Anwendungshilfe bieten. Den Leserinnen und Lesern dieses Buches wollen wir eine schnelle und zuverlässige Hilfe an die Hand geben. Ausschließlich im Interesse der Lesefreundlichkeit verwenden wir die männliche Sprachform. Fulda Annett Gamisch Thomas Mohr

12 www.WALHALLA.de 1 1. Entstehung des TV-V Das Ziel der Entwicklung eigener tariflicher Regelungen für die Versorgungsbranche war zum einen, mehr Wettbewerbsfähigkeit mit den privatwirtschaftlichen Unternehmen zu erreichen, zum anderen die unterschiedlichen Regelungen für Arbeiter und Angestellte in einem gemeinsamen Tarifwerk zusammenzuführen. Die Öffnung des Strommarkts im Jahr 1998 und die damit einhergehende Wettbewerbssituation brachten den erforderlichen Schwung, um die seit 1990 (mit Unterbrechungen) laufenden Tarifverhandlungen zum Abschluss zu führen. So wurden mit dem im Jahr 2000 vereinbarten TV-V die bisherigen Tarifverträge für Angestelltentätigkeiten [BAT- (-O)-VKA] bzw. Arbeitertätigkeiten [BMT-G(-O)] abgelöst. Betrachtet man die Eingruppierungsregeln unter diesem Entstehungshintergrund, wird deutlich, dass die Tarifvertragsparteien mit dem TV-V zwar ein für Angestellten- und Arbeitertätigkeiten einheitliches Regelwerk entwickelt haben, aber an weiten Stellen dabei auf die Vorgängerregelungen des BAT, aber auch des BMT-G zurückgegriffen haben. So macht auch die wenige Rechtsprechung zur Anwendung des TV-V im Rahmen der Auslegung der Tarifregeln davon Gebrauch, auch auf diese Entstehungsgeschichte vergleichend zurückzugreifen (siehe z. B. zur Frage der Zeitzuschläge nach § 10 TV-V: BAG 17.08.2011, 10 AZR 347/10, Rn. 16, AP Nr. 3 zu § 1 TVG: Tarifverträge Versorgungsbetriebe, ausführlicher dazu auch die Vorinstanz: LAG Sachsen-Anhalt 18.02.2010, 3 Sa 186/09, Rn. 45). Die Modernisierung des Tarifrechts für Versorgungsbetriebe sollte dafür sorgen, dass die mit der Liberalisierung des Energiemarkts verbundenen Ziele besser umgesetzt werden können: ■ Produktivitätssteigerung (Kostenreduktion) ■ Optimierung des Faktors Zeit ■ Qualitätsverbesserung ■ Produktentwicklung ■ stärkere Kundenorientierung (vgl. Schlusen/Fellenberg/Hüsgen, Kapitel B, Rn. 1 ff.)

www.WALHALLA.de 13 2. Einführung des TV-V 1 2. Einführung des TV-V Die Einführung des TV-V ist in §§ 22 bzw. 22a TV-V geregelt. Da die Arbeitnehmer das Tarifwerk wechseln, sprechen die Tarifvertragsparteien entsprechend von Überleitung. Im Wesentlichen regelt die Überleitung: § 22 TV-V Abs. Satz Regelungsinhalt 1 1 Stichtag der Überleitung 2 Zuordnung der alten Vergütungsgruppen und Lohngruppen zu den neuen Entgeltgruppen 3 Stufenzuordnung 4, 5 Grundlagen der Überleitung für Angestellte und Arbeiter 6 Umfang der Berücksichtigung von Funktionszulagen 7 Bildung des Vergleichsentgelts als sogenanntes erhöhtes Entgelt 8 Betragsmäßige Zuordnung (individuelle Zwischenstufe) innerhalb der übergeleiteten Entgeltgruppe 9 Sogenannte „Überläuferfälle“, deren betragsmäßige Zuordnung (individuelle Zwischenstufe) aufgrund der Höhe des Betrags nicht mehr innerhalb der übergeleiteten Entgeltgruppe möglich ist 2 „Verrechnung“ ausstehender Bewährungs-, Zeit- oder Tätigkeitsaufstiege bzw. Vergütungsgruppenzulagen 1 Unter 2 Jahren 2 Mehr als 2 Jahre 4 Überleitung der Zulage für Vorarbeiter, Vorhandwerker und Fachvorarbeiter Hinzu kommen diese Besitzstandsregelungen: § 22 TV-V Abs. Regelungsinhalt 3 Kinderbezogene Entgeltbestandteile 5 Vertretungszuschlag nach BMT-G/-O

14 www.WALHALLA.de Der Tarifvertrag für die Versorgungsbranche 1 § 22 TV-V Abs. Regelungsinhalt 6 Weitergeltung der landesbezirklichen Regelungen zu Leistungszuschlägen nach § 20 BMT-G für Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und das Saarland 7 Weitergeltung bzw. Anerkennung des Unkündbaren-Status 8 Zahlungen wegen Leistungsminderung gemäß §§ 28, 28a BMT-G 9 Erschwerniszuschläge 10 a) Entgelte für Bereitschaftsdienste b) Arbeitsbefreiung aus persönlichen Gründen c) Jubiläumsgeld 11 Anerkennung von Beschäftigungszeiten als Betriebszugehörigkeit für Jubiläumsgeld und Kündigungsfristen 12 Besondere Regelungen für den Geltungsbereich des HGTAV 13 (aufgehoben) 14 Arbeitnehmer in Altersteilzeit § 22 TV-V regelt die Überleitung aus den alten Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes (BAT(-O); BTM-G(-O)), § 22a TV-V hingegen die Überleitung vom TVöD in den TV-V: § 22a TV-V Abs. Satz Regelungsinhalt 1 1 Stichtag der Überleitung 2 Zuordnung der Entgeltgruppen des TVöD zu den Entgeltgruppen des TV-V 3 Stufenzuordnung 4, 5 Bildung des Vergleichsentgelts als sogenanntes erhöhtes Entgelt 6 Betragsmäßige Zuordnung (individuelle Zwischenstufe) innerhalb der übergeleiteten Entgeltgruppe 7 Sogenannte „Überläuferfälle“, deren betragsmäßige Zuordnung (individuelle Zwischenstufe) aufgrund der Höhe des Betrags nicht mehr innerhalb der übergeleiteten Entgeltgruppe möglich ist 2 (aufgehoben) 4 Überleitung der Zulage für Vorarbeiter, Vorhandwerker und Fachvorarbeiter

www.WALHALLA.de 15 3. Die Anwendung und Auslegung der Eingruppierungsregeln im TV-V 1 Hinzu kommen diese Besitzstandsregelungen: § 22a TV-V Abs. Regelungsinhalt 3 Kinderbezogene Entgeltbestandteile 5 Vertretungszuschlag nach § 14 TVöD i. V. m. § 5 Abs. 3 TV-V (Differenzzahlung) 6 Weitergeltung der landesbezirklichen Regelungen zu Leistungsentgelten nach § 20 BMT-G für Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und das Saarland 7 Weitergeltung bzw. Anerkennung des Unkündbaren-Status 8 Zahlungen wegen Leistungsminderung gemäß §§ 28, 28a BMT-G i. V. m. TVÜ-VKA 9 Erschwerniszuschläge 10 a) Entgelte für Bereitschaftsdienste b) Arbeitsbefreiung aus persönlichen Gründen c) Jubiläumsgeld 11 Anerkennung von Beschäftigungszeiten als Betriebszugehörigkeit für Jubiläumsgeld und Kündigungsfristen 12 Besondere Regelungen für den Geltungsbereich des HGTAV 13 (aufgehoben) 14 Arbeitnehmer in Altersteilzeit 3. Die Anwendung und Auslegung der Eingruppierungsregeln im TV-V Rechtsnormen können nicht derart präzise formuliert werden, dass jeder denkbare Streitfall erfasst wird. Sie müssen aus drei Gründen ausgelegt werden: 1. Begriffe und Zeichen sind immer auslegungs- und interpretationsbedürftig. 2. Normen- bzw. Zielkonflikte können nicht ausgeschlossen werden. 3. Rechtslücken sind unvermeidbar. (vgl. Schwintowski, S. 51 ff.)

16 www.WALHALLA.de Der Tarifvertrag für die Versorgungsbranche 1 Die Vorgehensweise zur Auslegung von Rechtsnormen ist nicht gesetzlich geregelt. Vielmehr ist die Methode der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung überlassen. Das (Tarif-)Recht wird erst durch seine Anwendung auf den Einzelfall konkretisiert. Die Rechtsanwendung, auch die des Tarifvertrags, darf sich nicht im rechtsfreien Raum bewegen, sondern muss einer Methode folgen. Rechtsvorschriften sind wie folgt anzuwenden: 1. Welche Tatbestandsmerkmale (Voraussetzungen) müssen erfüllt sein, damit die in der Rechtsnorm enthaltene Rechtsfolge eintritt? 2. Was genau bedeutet jedes einzelne dieser abstrakt-generell formulierten Merkmale (Definition bzw. Gesetzesauslegung)? 3. Wird der konkret-individuelle Sachverhalt vom Tatbestand der Rechtsnorm erfasst? 4. Wenn ja, tritt die in der Rechtsnorm enthaltene Rechtsfolge ein. (vgl. Wienbracke, Rn. 75 ff., 120) Das BAG hat festgestellt, dass Tarifverträge wie Gesetze ausgelegt werden: BAG vom 19.06.2018 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm zu berücksichtigen, sofern und soweit er in den tariflichen Regelungen und ihrem systematischen Zusammenhang Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann (…) Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Regelung führt. (BAG 19.06.2018, 9 AZR 564/17, Rn. 17 m. w. N., zit. nach www.bundesarbeitsgericht.de/entscheidungen; Hervorhebungen durch die Verfasser) BAG vom 26.04.2017 Bei der Wortlautauslegung ist, wenn die Tarifvertragsparteien einen Begriff nicht eigenständig definieren, erläutern oder einen feststehenden Rechtsbegriff verwenden, vom allgemeinen Sprachgebrauch auszugehen. Wird ein Fachbegriff verwendet, der in allgemeinen oder in fachlichen Kreisen eine bestimmte Bedeutung hat, ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien mit diesem Begriff den allgemein üblichen Sinn verbinden wollten, wenn nicht sichere Anhaltspunkte für eine abweichende Auslegung gegeben

www.WALHALLA.de 17 3. Die Anwendung und Auslegung der Eingruppierungsregeln im TV-V 1 sind, die aus dem Tarifwortlaut oder anderen aus dem Tarifvertrag selbst ersichtlichen Gründen erkennbar sein müssen. Wird ein bestimmter Begriff mehrfach in einem Tarifvertrag verwendet, ist im Zweifel weiter davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien dem Begriff im Geltungsbereich dieses Tarifvertrags stets die gleiche Bedeutung beimessen wollen. (BAG 26.04.2017, 10 AZR 589/15, Rn. 15 m. w. N., AP Nr. 26 zu § 4 TzBfG, Hervorhebungen durch die Verfasser) BAG vom 13.07.2021 Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorrang, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. (BAG 13.07.2021, 3 AZR 363/20, AP Nr. 62 zu § 1 BetrAVG Auslegung mit Hinweis auf BAG 21.01.2020, 3 AZR 73/19; BAG 10.02.2015, 3 AZR 904/13, AP Nr. 55 zu § 1 BetrAVG Auslegung; Hervorhebungen durch die Verfasser) Demzufolge wird der Tarifvertrag in folgenden Schritten ausgelegt: Checkliste: Auslegung 1. Auslegung des Wortlauts (sog. grammatikalische Auslegung) Definition/Bedeutung im Tarifvertrag im Gesetz der verständigen Fachkreise im allgemeinen Sprachgebrauch 2. Auslegung unter Berücksichtigung der Stellung der Tarifnorm im Gesamtgefüge des Tarifvertrags (sog. systematische Auslegung) 3. Auslegung nach Sinn und Zweck (sog. teleologische Auslegung) Auslegung nach der Tarifgeschichte (sog. historische Auslegung) Praktische Tarifübung Praktikabilität

18 www.WALHALLA.de Der Tarifvertrag für die Versorgungsbranche 1 4. Status quo und Ausblick Seit Inkrafttreten des Tarifvertrags sind – soweit ersichtlich – nur vereinzelt Gerichtsentscheidungen zur Eingruppierung nach dem TV-V ergangen. Wir haben diese im Folgenden für Sie entsprechend mit „Entscheidung zum TV-V“ hervorgehoben. Aufgrund der in der Praxis regelmäßig über der Tarifnorm liegenden Bezahlung sind diese vorerst auch nicht zu erwarten. Auch bei den inhaltlich ähnlichen Tarifverträgen für den Nahverkehr finden sich nur vereinzelt veröffentlichte Eingruppierungsentscheidungen. Bei der ergänzenden Auslegung der Eingruppierungsbestimmungen des TV-V kommt es somit vor allem auch darauf an, welche Gerichtsentscheidungen zu den Vorläuferregelungen des BAT bzw. BMT-G noch Anwendung finden können und welche Gerichtsentscheidungen gut geeignet sind, da sie mit den Strukturen bzw. den Tätigkeiten eines Versorgungsbetriebs vergleichbar sind bzw. zumindest gleiche Problemstellungen aufwerfen. Hinzu kommt, dass die Eingruppierungsbestimmungen des BAT/BMT-G seit 2017 durch die neue Entgeltordnung zum TVöD-VKA ersetzt wurden bzw. für körperlich-handwerkliche Aufgaben (sog. Arbeitertätigkeiten) durch Landesbezirkstarifverträge weiter ersetzt werden. Wir haben deshalb für die folgenden Ausführungen zu den Eingruppierungsbestimmungen des TV-V alle Gerichtsentscheidungen nicht nur nach Aktualität, sondern auch nach Übertragbarkeit auf die Situation in Versorgungsbetrieben ausgewählt. Durch die geänderten Rahmenbedingungen in der Versorgungswirtschaft werden Personalkosten eine stärkere Rolle spielen als bisher (vgl. Richter/Gamisch, gwf 2011, S. 606 f.). Das Wissen um die tarifgerechte Eingruppierung hat wegen des EnWG von 2005 und dessen Novellierungen nach wie vor eine hohe Bedeutung, sei es als Vergütungs- oder Verhandlungsgrundlage. Auch wenn sich aufgrund des Fachkräftemangels oft Schwierigkeiten in der Personalgewinnung ergeben und in der Praxis deshalb nach alternativen Lösungen gesucht wird und betriebliche Entlohnungssysteme entwickelt werden (siehe z. B. LAG Nürnberg 14.02.2022, 1 TaBV 26/21, abrufbar unter: https://www.lag.bayern. de/nuernberg/entscheidungen/) gilt es den TV-V zu beachten, muss oder soll er denn auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden. So stellte das LAG Nürnberg in seiner Entscheidung (S. 15) vom 14.02.2022 klar:

www.WALHALLA.de 19 5. Exkurs: Eingruppierung und Arbeitsrecht 1 „Zutreffend hat das Arbeitsgericht ausgeführt, dass es auf die Implementierung eines anderweitigen Systems der Eingruppierung von Sekretariatsaufgaben durch die Beteiligte zu 1.) (Arbeitgeberin) und auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht ankommt. Die Beteiligte zu 1.) ist tarifgebunden. Aus diesem Grund hat sie die Eingruppierungsregeln des Tarifvertrags anzuwenden. Die Etablierung anderer Systeme ist gemäß § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG nicht möglich und für die Mitbestimmung nach § 99 BetrVG, bei der es allein um die Anwendung des tariflichen Systems gehen kann, unerheblich.“ (Ergänzung durch die Verfasser) 5. Exkurs: Eingruppierung und Arbeitsrecht Das weite Direktionsrecht im öffentlichen Dienst Im Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes besteht grundsätzlich ein weites Direktionsrecht des Arbeitgebers. Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, jede ihm zugewiesene zumutbare Tätigkeit zu verrichten, die den Merkmalen seiner Entgeltgruppe entspricht. Vor diesem Hintergrund darf aber z. B. die Tätigkeit als Datenschutzbeauftragter gemäß § 4f BDSG grundsätzlich nicht im Wege des Direktionsrechtes übertragen werden. Vielmehr liegt regelmäßig eine Änderung des Arbeitsvertrages vor, für die der Abschluss eines Änderungsvertrages notwendig ist (vgl. BAG 13.03.2007, 9 AZR 612/05, AP Nr. 1 zu § 4f BDSG). Ähnliches gilt für die Bestellung zur verantwortlichen Elektrofachkraft. Auch sie ist nur mit dem Einverständnis des Mitarbeiters möglich (zu den Einzelheiten siehe LAG Berlin-Brandenburg 17.11.2017, 2 Sa 868/17, ZTR 2018, S. 213 ff.). Die Rechtslage ist anders, wenn sich die Beauftragung darauf beschränkt, im Auftrag des Arbeitgebers Weisungen zu erteilen. In diesem Fall erlangt der Beschäftigte keine besondere rechtliche Stellung, sondern bleibt gegenüber dem Arbeitgeber weisungsgebunden. Das gilt z. B. für einen Sicherheitsbeauftragten gemäß § 22 SBG VII oder den Inklu- sionsbeauftragten des Arbeitgebers im Sinne von § 181 SGB IX. Niederwertige Tätigkeiten muss der Arbeitnehmer grundsätzlich nicht ausüben, da die Übertragung niederwertigerer Tätigkeiten nicht vom Direktionsrecht abgedeckt ist. Dabei ist es unerheblich, dass dem Arbeitnehmer sein bisheriges Entgelt weitergezahlt wird (vgl. BAG 24.09.2015, 2 AZR 680/14, AP Nr. 165 zu § 2 KSchG 1969, ZTR 2016, S. 275 ff. sowie LAG Rheinland-Pfalz 05.07.2007, 11 Sa 43/07 m. w. N. auf die Rechtsprechung des BAG). Eine Ausnahme besteht nur für sog. Mischtätigkeiten (siehe Kap. 9.3, 4. Schritt). Dabei bilden

20 www.WALHALLA.de Der Tarifvertrag für die Versorgungsbranche 1 das Berufs- bzw. Sozialbild die Grenzen des Direktionsrechts (vgl. BAG 17.08.2011, 10 AZR 322/10, AP Nr. 13 zu § 106 GewO m. w. N.). Wichtig: Weitergehende Ausnahmen bestehen nur für den Fall, dass ein Beschäftigungsverbot gemäß Mutterschutzgesetz vorliegt (vgl. BAG 09.04.2014, 10 AZR 637/13, AP Nr. 29 zu § 106 GewO). Es kann fraglich sein, ob das Direktionsrecht durch betriebliche Übung bzw. Konkretisierung eingeengt worden ist. Unter einer betrieblichen Übung bzw. Betriebsübung versteht man die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen durch den Arbeitgeber, aus denen der Arbeitnehmer schließen kann, dass diese Verhaltensweise auch künftig und auf Dauer erfolgen soll. Hinsichtlich der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers spricht man in diesem Zusammenhang von einer Konkretisierung der geschuldeten Tätigkeit. Auch ohne eine ausdrückliche Festlegung im Arbeitsvertrag kann sich die vom Arbeitnehmer geschuldete Tätigkeit grundsätzlich bei langjährigem vorbehaltlosen Einsatz an einem bestimmten Arbeitsplatz auf diese bestimmte Tätigkeit konkretisieren. Wichtig: Das Entstehen einer betrieblichen Übung und die Konkretisierung der Arbeitsleistung ist im öffentlichen Dienst regelmäßig ausgeschlossen. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des BAG muss der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes davon ausgehen, dass ihm sein Arbeitgeber nur die Leistungen gewähren will, zu denen er gesetzlich oder tarifvertraglich verpflichtet ist: Im Zweifel gilt Normenvollzug (vgl. BAG 29.09.2004, 5 AZR 528/03, AP Nr. 67 zu § 242 BGB Betriebliche Übung). Das trifft in jedem Fall für öffentliche Arbeitgeber zu, die dem Haushaltsrecht unterliegen. Im Anwendungsbereich des TV-V kann aber grundsätzlich nichts anderes gelten, weil die Unternehmen zum einen dem öffentlichen Dienst zuzuordnen sind und zum anderen Aufgaben der Daseinsfürsorge erfüllen (vgl. LAG Düsseldorf 27.11.2002, 12 Sa 1071/02, ZTR 2003, S. 195 zur vergleichbaren Rechtslage im kirchlichen Arbeitsrecht; zur Zuordnung von Verkehrs- und Versorgungsunternehmen zur öffentlichen Daseinsvorsorge siehe auch LAG Hamm 10.06.2008, 4 Sa 89/08, zit. nach WKRS 2008, 20745). Wichtig: Dies setzt aber voraus, dass der TV-V konsequent umgesetzt und nicht durch betriebliche oder einzelvertragliche Abweichungen unterlaufen wird.

www.WALHALLA.de 21 5. Exkurs: Eingruppierung und Arbeitsrecht 1 Die Angabe der Entgeltgruppe im Arbeitsvertrag Vor diesem Hintergrund wird in § 2 Abs. 1 TV-V bestimmt, dass im Arbeitsvertrag die Entgeltgruppe anzugeben ist. Die Rechtslage gleicht der im TVöD, TV-L bzw. BAT. Danach ist die Angabe der Entgeltgruppe deklaratorisch, das heißt klarstellend (vgl. BAG 02.06.2021, 4 AZR 387/20, AP Nr. 7 zu § 12 TV-L). Mit dem Hinweis auf die Entgeltgruppe wird das (weite) Weisungs- bzw. Direktionsrecht des Arbeitgebers (vgl. § 106 GewO) ein Stück weit eingegrenzt: Der Arbeitgeber darf dem Arbeitnehmer alle Tätigkeiten der Entgeltgruppe übertragen, sofern sich Grenzen nicht aus dem Berufs- oder Sozialbild ergeben. Es wird aber kein vertraglicher Vergütungsanspruch eingeräumt. Demgegenüber muss die Fallgruppe nicht im Arbeitsvertrag genannt werden (ebenso Schlusen/Fellenberg/Hüsgen, Kapitel B, § 2, Rn. 14). Deren Aufnahme in den Vertrag verengt das Direktionsrecht des Arbeitgebers. Er darf in diesem Fall nur Tätigkeiten der Fallgruppe übertragen. Da der TV-V im Unterschied zum BAT sich grundsätzlich auf wenige Fallgruppen je Entgeltgruppe beschränkt, hat diese Frage letztlich eine untergeordnete Bedeutung. Wichtig: Eine Klage auf Feststellung der Fallgruppe ist nicht möglich (vgl. BAG 22.01.2003, 4 AZR 700/01, AP Nr. 24 zu § 24 BAT). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass durch Stellenbeschreibungen das Direktionsrecht des Arbeitgebers nicht eingeengt wird (vgl. Gamisch/Mohr, StB, S. 36 f.). Entscheidung zum TV-V Rechtliche Relevanz kann dem Inhalt einer – von zuständiger Stelle verfassten – Stellenbeschreibung allein insoweit zukommen, als es die tatsächliche Feststellung betrifft, welche Einzelaufgaben mit welchen zeitlichen Anteilen dem betreffenden Arbeitnehmer übertragen sind. Im Bestreitensfall kommt der vom Arbeitgeber verfassten Stellenbeschreibung insoweit eine entsprechende indizielle Wirkung zu. Hiervon zu unterscheiden ist die rechtliche Bewertung, inwiefern die übertragene Tätigkeit den tariflichen Anforderungsmerkmalen einer bestimmten Vergütungsgruppe entspricht, das heißt ob etwa zur Aufgabenerledigung ein bestimmtes Maß an Fachkenntnissen erforderlich ist. Dieser Subsumtionsvorgang ist der Rechtsanwendung zuzuordnen, welche vom Gericht ohne Bindung an die Rechtsansichten der Parteien vorzunehmen ist. (vgl. LAG Hamm 31.05.2012, 8 Sa 1908/11, zit. nach WKRS 2012, 26982) Das gilt auch für den Nachweis bzw. die Niederschrift gemäß Nachweisgesetz. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, dem Arbeitnehmer die

22 www.WALHALLA.de Der Tarifvertrag für die Versorgungsbranche 1 Wertigkeit der Stelle mitzuteilen. Dazu gehört nicht nur die Angabe der Entgeltgruppe im Arbeitsvertrag, sondern auch die der Fallgruppe im Nachweis (vgl. LAG Hamm 27.07.1995, 4 Sa 900/94, LAGE § 2 NachwG Nr. 1; a. A. BAG 08.06.2005, 4 AZR 406/04, AP Nr. 8 zu § 2 NachwG).

RkJQdWJsaXNoZXIy MTM5MDIz